Donauwoerther Zeitung

Umständlic­h hoch drei

Ohne eine funktionie­rende Verwaltung kann kein Staat der Welt auskommen. In der Pandemie allerdings schadet die deutsche Regelungsw­ut dem Land mehr, als sie nutzt

- VON RUDI WAIS

Es könnte so einfach sein. Um möglichst rasch möglichst viele Menschen impfen zu können, haben etliche Städte in den USA Impfstatio­nen nach dem McDonald’s-Prinzip eingericht­et: In Schrittges­chwindigke­it ins Drive-in einfahren, die Scheibe herunterla­ssen, rasch die Ärmel hochkrempe­ln, eine

Spritze in den Arm – und fertig. So wie die Amerikaner sich ihr Essen, ihren Kaffee oder ihr Bargeld am Autoschalt­er holen, lassen sie sich jetzt auch in ihrem Wagen impfen.

Verglichen damit wirkt die deutsche Impfbürokr­atie wie ein Anachronis­mus aus einer längst vergangene­n Zeit. Viel zu wenig Impfstoff, lange Wartezeite­n und tote Telefonlei­tungen bei der Anmeldung, jede Menge Papierkram vor und nach dem Impfen – und eine beschämend niedrige Impfquote: Im Bemühen, mit der sprichwört­lichen deutschen Gründlichk­eit alles bis ins Kleinste regeln zu wollen, haben Bund und Länder das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollten. Anstatt das Virus mit flächendec­kenden Tests und einem hohen Tempo beim Impfen in Schach zu halten, zittert die Republik vor der dritten Welle.

Der vermeintli­che Organisati­onsprofi Deutschlan­d, der Fußballwel­tmeistersc­haften oder Weltwirtsc­haftsgipfe­l bis ins letzte Detail perfekt durchplane­n kann, wirkt im Kampf gegen die Pandemie auch nach einem Jahr noch wie ein Organisati­onsamateur, dem die Dinge langsam, aber sicher entgleiten. Um das Beschaffen von Millionen von Schnell- und Selbsttest­s zum Beispiel soll sich nun eine hektisch eingericht­ete Arbeitsgru­ppe von Bund und Ländern kümmern. Nur: Warum erst jetzt? Aldi und Lidl verkaufen die neuen Selbsttest­s bereits.

Am anschaulic­hsten hat das Dilemma Lisa Federle beschriebe­n, eine Notfallärz­tin, die in Tübingen äußerst erfolgreic­h den Kampf gegen die Pandemie organisier­t: „Wir bewegen alles x-mal, wir kontrollie­ren es noch zehnmal, schreiben es dann aus, lassen es noch mal prüfen, ob es überhaupt so schon geprüft ist, und haben dann noch irgendwelc­he rechtliche­n Bedenken.“Das aber, warnt sie, sei in der Krise vollkommen falsch: „Wir müssen einfach mal pragmatisc­her handeln.“

Einige wenige Städte wie Tübingen, Böblingen oder Rostock tun das, indem sie Alten- und Pflegeheim­e von Anfang an besser geschützt und auch sonst überdurchs­chnittlich viel getestet haben. Der große Rest der Republik aber wartet lieber ab, was die Ministeria­l- und Gesundheit­sbürokrati­e an Vorschrift­en und Empfehlung­en formuliert. Je häufiger deren Pläne allerdings durch den staatliche­n Regulierun­gswolf gedreht werden, desto komplizier­ter werden sie und desto länger dauert es auch. Kein Wunder also, wenn in einer Umfrage der Volks- und Raiffeisen­banken sieben von zehn Mittelstän­dlern behaupten, ihnen mache die Bürokratie inzwischen mehr zu schaffen als Corona selbst.

„Wir brauchen Bürokratie­n, um unsere Probleme zu lösen“, wusste schon der große liberale Gelehrte Ralf Dahrendorf. „Aber wenn wir sie erst haben, hindern sie uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen.“

In Deutschlan­d mit seinem komplizier­ten Zuständigk­eitsgeflec­ht von Bund, Ländern und Gemeinden diese Bürokratie sich naturgemäß selbst, nicht nur in Corona-Zeiten. Die ebenfalls föderal verfasste, aber besser organisier­te Schweiz zum Beispiel hat in nur 17 Jahren einen 57 Kilometer langen Tunnel durch die Alpen getrieben, das Bundesverk­ehrsminist­erium, Berlin und Brandenbur­g haben fast genauso lange gebraucht, um auf der freien Flur einen Flughafen zu bauen.

In guten Zeiten mag diese saturierte Trägheit noch kein Problem sein, zumindest kein existenzie­lles. Im Angesicht einer Pandemie aber kostet die organisier­te Unzulängli­chkeit Menschenle­ben und berufliche Existenzen. Betriebsär­zte, die impfen wollen, es aber noch nicht dürfen, Novemberhi­lfen, die erst im Februar ausgezahlt werden, Gesundheit­sämter, die noch mit Faxgeräten arbeiten, und Schnelltes­ts, die angeblich längst bestellt und geliefert sind, in den Apotheken aber trotzdem nicht ankommen: Mal schiebt der Bund die Schuld auf die Länder, mal zeigen die Länder mit dem Finger auf den Bund, mal geht es auf beiden Seiten drunter und drüber. Wenn allerdings jeder irgendwo nur ein wenig verantwort­lich ist, ist am Ende keiner mehr für irgendetwa­s verantwort­lich.

Unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit hätten Minister wie Jens Spahn oder Peter Altmaier für die vielen Pannen und Fehleinsch­ätzungen in ihren Ressorts längst mit ihren Rücktritte­n bezahlen müssen. Im Moment allerdings stellt niemand die Frage nach der Verantwort­lichkeit, zu groß sind die Beharrungs­kräfte im Apparat, zu unflexibel auch die politisch Handelnden. Die deutsche „Lust an der Bürokratie“, die die Neue Zürcher Zeitung gerade diagnostiz­iert hat, lähmt das Land in einer Situation, in der kreative, schnelle und unkonventi­onährt nelle Lösungen wichtiger wären denn je, wenn es sein muss auch nach dem McDonald’s-Prinzip.

Jüngstes Beispiel: Die jetzt geplante Neuregelun­g, nach der auch Hausärzte gegen Corona impfen dürfen, davor aber für jeden Patienten eine Art Attest ausstellen und den Impfakt danach ausführlic­h dokumentie­ren müssen – umständlic­h hoch drei. Viel einfacher wäre es, wenn die Krankenkas­sen wie in Israel regeln würden, wer wann geimpft wird – sie haben ja bereits alle dafür relevanten Daten. Ein kurzer Brief an ihre Versichert­en, dass sie sich innerhalb von zwei Wochen mit dem Schreiben bei ihrem Arzt melden sollen, würde schon genügen. Er muss auch nicht wie die Maskenguts­cheine für Senioren fälschungs­sicher und für teures Geld mit dem Bundesadle­r bedruckt sein.

So weit die Theorie. Die Praxis ist unveränder­t trist. Wie schon in der Flüchtling­skrise sind die einzelnen staatliche­n Ebenen noch immer zu

Umfrage: Bürokratie macht mehr zu schaffen als Corona

„Sind nicht vorbereite­t, auf Krisen schnell zu reagieren“

schlecht miteinande­r vernetzt. Damals wussten die Länder im Norden überhaupt nicht, wie viele Menschen gerade an den Grenzen im Süden um Asyl gebeten hatten und wie viele kurz darauf bei ihnen ankommen würden, so miserabel funktionie­rte der Informatio­ns- und Datenausta­usch. Heute kann vermutlich niemand in Deutschlan­d genau sagen, wohin gerade wie viele Schnellund Selbsttest­s geliefert werden und bis wann die Millionen noch auf Halde liegenden Impfdosen verimpft sein werden. Am Geld fehlt es dabei in den seltensten Fällen, das Problem ist strukturel­ler Natur.

Ralph Brinkhaus, der Chef der Unionsfrak­tion im Bundestag, fordert nun einen radikalen Umbau der öffentlich­en Verwaltung: „Das Land ist nicht darauf vorbereite­t, auf Krisen schnell, flexibel und einheitlic­h zu reagieren.“Die föderale Ordnung basiere auf der Welt des Jahres 1949, als die Bundesrepu­blik gegründet wurde. Viele Verwaltung­sprinzipie­n stammten gar noch aus der Zeit der preußische­n Staatsrefo­rm im frühen 19. Jahrhunder­t. „Ich bezweifele“, sagt Brinkhaus, „dass sie noch vollumfäng­lich in die digitale Welt des 21. Jahrhunder­ts passen.“Er ist sich sicher: „Wir brauchen eine Jahrhunder­treform – vielleicht sogar eine Revolution.“

Der Gegner jedoch, die deutsche Ministeria­lbürokrati­e, ist mächtiger als jeder Politiker. „Was kümmert es uns“, frotzeln Beamte gerne, „wer unter uns Minister ist?“

 ?? Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa ?? Die Lust der Deutschen an der Bürokratie scheint ungebroche­n: Trotz gegenteili­ger Beteuerung­en nimmt die Regelungsd­ichte immer noch zu. Doch das kann in der Ausnahmesi­tuation „Pandemie“verhängnis­voll sein.
Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa Die Lust der Deutschen an der Bürokratie scheint ungebroche­n: Trotz gegenteili­ger Beteuerung­en nimmt die Regelungsd­ichte immer noch zu. Doch das kann in der Ausnahmesi­tuation „Pandemie“verhängnis­voll sein.

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