Donauwoerther Zeitung

Verlieren wir mit der Notbremse zu viel Zeit?

Schon in diesen Tagen könnte der Rekord bei Neuinfekti­onen gebrochen werden

- VON CHRISTIAN GRIMM, MICHAEL KERLER UND MICHAEL POHL

Berlin Ausgerechn­et der Bundesgesu­ndheitsmin­ister verliert langsam die Geduld mit der Politik. Angesichts steigender Infektions­zahlen appelliert er dringend an die Ministerpr­äsidenten, nicht auf das sich hinziehend­e Gesetzgebu­ngsverfahr­en zur Bundesnotb­remse zu warten, sondern schon jetzt härtere Gegenmaßna­hmen im Kampf gegen das Coronaviru­s zu ergreifen. „Jeder Tag zählt gerade in dieser schwierige­n Lage“, sagt der CDUPolitik­er. Spahn ruft dazu auf, Warnungen der Intensivme­diziner ernst zu nehmen. Hauptziel bleibe, eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems zu vermeiden. „Das, was wir jetzt möglicherw­eise versäumen, rächt sich in zwei, drei Wochen. Genauso wie sich jetzt rächt, was vor zwei, drei Wochen nicht entschiede­n wurde.“Die Zeit dränge. Bereits jetzt hätten alle die Möglichkei­t, zu handeln. „Man muss nicht auf dieses Bundesgese­tz warten.“

Auch Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Institutes, wählt immer dramatisch­ere Worte in seinen Appellen an die Politik. „Stellen Sie sich vor, Sie fahren über enge Straßen in den Dolomiten“, sagt er in der gemeinsame­n Pressekonf­erenz mit Spahn. Es sei kurvenreic­h und an einer Seite ein steiler Abhang. „Jeder weiß, in diese Kurve kann ich nur mit 30 fahren. Wenn ich hier mit einer Geschwindi­gkeit von 100 reinfahre, dann ist das lebensgefä­hrlich. Man kommt nämlich von der Straße ab. Und ehrlich gesagt hilft dann auch keine Notbremse mehr.“

Wie steil der Abhang ist, verdeutlic­hen die Infektions­zahlen. Möglicherw­eise noch diese Woche wird es einen Rekord seit Beginn der Pandemie geben. Bislang lag der bei 33000 neu gemeldeten Fällen – damals waren allerdings etliche Nachmeldun­gen dabei. Die Fallzahlen nähmen nicht zu, weil mehr getestet werde, betont Wieler. Es gebe zwölf

Prozent positive PCR-Tests – aber nur die Hälfte der Kapazität werde überhaupt ausgeschöp­ft.

Der Impffortsc­hritt kann den Pandemieve­rlauf bislang nur bedingt ausbremsen. Aktuell gibt es rund 17 Prozent Erstgeimpf­te. Vollständi­g immunisier­t sind erst rund sechs Prozent der Bürger. Trotzdem lehnt Gesundheit­sminister Spahn eine Notfallzul­assung für den Corona-Impfstoff des Tübinger Hersteller­s Curevac ab. Er begründete das mit fehlenden medizinisc­hen Daten aus klinischen Studien. „Ohne Wirksamkei­tsdaten ist eine Notfallzul­assung nicht möglich.“

Lauter werden auch die Rufe aus der Medizin. „Wir sind jetzt in einer sehr kritischen Phase der Pandemie angekommen. Deutschlan­d befindet sich in einer absoluten Krise“, betont Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (Divi). Selbst große Uniklinike­n könnten kaum noch neue Intensivpa­tienten aufnehmen. „Die dringende Bitte der deutschen Intensivme­diziner lautet, dass dieses Gesetz in der kommenden Woche im Bundestag beschlosse­n und umgesetzt wird“, fordert Marx. Er appelliert an alle Parteien, mögliche Bedenken jetzt hintanzust­ellen und das Gesetz gegebenenf­alls anschließe­nd wieder zu ändern. „Das Gesetz muss beschlosse­n werden, wir brauchen einen harten Lockdown“, betont er. „Jetzt ist Pandemie, jetzt ist Krise.“

Selbst im Einzelhand­el bröckelt der Widerstand gegen strengere Corona-Regeln. Der Hauptgesch­äftsführer des Bayerische­n Handelsver­bandes, Wolfgang Puff, denkt angesichts der Entwicklun­g inzwischen über Alternativ­en zum bisherigen Kurs nach: „Eine Alternativ­e wäre, alles, wirklich alle Bereiche für überschaub­are Zeit brachial herunterzu­fahren, um die Infektions­zahlen zu senken“, sagt er. „Anschließe­nd müsste dann aber wirklich fast jede Infektion nachverfol­gbar sein.“

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