Donauwoerther Zeitung

Ein Stich ins Herz

Gelsenkirc­hen gilt als Armenhaus Deutschlan­ds. Für die Menschen dort gab es jahrzehnte­lang nur Bergbau und Fußball. Der Bergbau ist längst Geschichte, nun taumelt auch noch der FC Schalke 04 der Zweitklass­igkeit entgegen. Wie hält man das aus?

- VON MARCO SCHEINHOF

Gelsenkirc­hen Plötzlich reißt der Himmel auf. Wolfgang Derks schaut nach oben. „Blau und weiß“, sagt er und strahlt. Es ist ein eigentlich trüber Tag. Ganz so, wie es zur Stimmung in Gelsenkirc­hen passt, auch wenn Schalke gerade mit 1:0 gegen den FC Augsburg gewonnen hat. Es ist der erst zweite Sieg in dieser Bundesliga-Saison. Kurzzeitig zeigt sich an diesem April-Nachmittag die Sonne. Schnell aber schieben sich wieder die Wolken davor. Vorbei mit blau-weiß. Wohl auch bald in der Bundesliga.

Derks steht auf der Schalker Meile. Der offizielle Name ist KurtSchuma­cher-Straße, sie führt hier zweispurig aus dem Zentrum von Gelsenkirc­hen nach Schalke. Jenem Stadtteil, der Gelsenkirc­hen so richtig bekannt macht. Hier spielt einer der schillernd­sten Klubs der Bundesliga. Der FC Schalke 04 gehört zu Deutschlan­ds Fußballeli­te, wie der Bergbau jahrzehnte­lang Teil von Gelsenkirc­hen war.

Bergbau und Fußball, das hat die Stadt im Ruhrgebiet geprägt. Mit dem Bergbau ist es schon seit etlichen Jahren vorbei, nun taumelt auch noch der Fußball in Richtung Zweite Liga. Das so stolze Schalke 04 also bald gegen Erzgebirge Aue und Heidenheim? Wolfgang Derks kratzt sich an der Stirn. Es ist ein Gedanke, der ihm nicht gefällt. Er blickt nach oben, nun wieder auf dunkle Wolken. „Wir haben uns damit abgefunden“, sagt der 71-Jährige. Es klingt ein klein wenig resigniert. Wer mag, kann auch Trotz heraushöre­n. „Im Herzen bleiben wir immer Schalker“, sagt er.

Wie er denken viele. Nicht nur im Ruhrgebiet, in ganz Deutschlan­d. Schalke gehört in die Erste Liga. Da herrscht Einigkeit. Wohl selbst beim ungeliebte­n Nachbarn aus Dortmund, der zwar eine große Rivalität mit den Königsblau­en pflegt, sie letztlich aber vermissen wird. Die Derbys, die das Ruhrgebiet elektrisie­ren. Eine Feindschaf­t ist aber nur gut, wenn sie auf Augenhöhe ist. Doch davon ist nichts mehr übrig. Dortmund hat sich im Spitzenfel­d etabliert. Schalke blickt in den Abgrund. Da hilft auch der Sieg gegen Augsburg nichts mehr.

„Einige werden jetzt wahrschein­lich wieder träumen“, sagt Derks. Vor sechs oder sieben Spieltagen hatte der Rentner auch noch Hoffnung. Eine Siegesseri­e, dann wäre das Wunder von Gelsenkirc­hen vielleicht noch möglich gewesen. Jetzt dürfte es zu spät sein.

Derks ist Vorsitzend­er des Fanklubs „Kuzorras Erben“. Die Stammkneip­e der rund 150 Mitglieder ist das „Bosch“. Ein kleines Lokal in einem typischen Gebäude auf Schalke. Ein tristes Mietshaus mit vielen kleinen Wohnungen und Balkonen. Seit der Bergbau keine Jobs mehr bietet, ist alles noch trostloser geworden. 1846 hatten die Bohrungen nach Kohle begonnen. Ab 1880 wurden im Norden Gelsenkirc­hens die ersten Zechen gebaut. Die Stadt lebte lange Zeit gut davon. Bis die Stilllegun­gen Anfang der 1990er Jahre begannen. 2002 wurde mit der Zeche Ewald die letzte geschlosse­n, ein trauriger Tag für Gelsenkirc­hen.

Fast 20 Jahre ist das her, die Stadt leidet noch heute darunter. Sie hat den Strukturwa­ndel nicht geschafft. Viele Läden stehen leer, viele Menschen sind arbeitslos. Im März waren 20365 Menschen ohne Job, die Arbeitslos­enquote betrug 15,6 Prozent. Gelsenkirc­hen gilt mit seinen 265000 Einwohnern als eine der ärmsten Städte in Deutschlan­d. Eine Studie von 2019 besagt, dass das Pro-Kopf-Einkommen in Gelsenkirc­hen 16 203 Euro im Jahr betrug. In München war es zu diesem Zeitpunkt mehr als doppelt so hoch.

Gelsenkirc­hen leidet. Umso wichtiger war und ist der Fußball.

Für viele ist der FC Schalke der Rückhalt. Die große Liebe, für manche die einzige. Vor Spielen treffen sich alle im „Bosch“. Der Politiker von den Grünen, der Anwalt, aber auch der Arbeitslos­e. Sie alle trinken ihr Bier zusammen, dann fahren sie mit der Straßenbah­n die gut zwei Kilometer zur Arena. „Wir sind wie eine große Familie. Hier werden viele Freundscha­ften geschlosse­n“, sagt Ronny Marcinkows­ki, dem die offizielle Fankneipe seit 16 Jahren gehört. Auch er leidet wegen Corona. Seit einem halben Jahr kann er nicht mehr öffnen. „Wir halten aber durch“, verspricht der 60-Jährige, „wir wollen hier wieder irgendwann zusammen feiern.“Er ist überzeugt, dass auch nach dem drohenden Abstieg fast alle wieder da sind. „Das Stadion wird wieder voll werden“, sagt er.

Über dem Eingang zu seiner Kneipe spannt sich ein Dach, daran hängt ein großes Schild mit dem Vereinsnam­en: FC Schalke 04, in blauer Schrift auf weißer Tafel. Drinnen geht es rustikal zu. Viele Holzmöbel sind noch aus den Anfangszei­ten in den 60er Jahren geblieben. Vor der Theke stehen Barhocker. Zwischen den Tischen hängen Plastikwän­de, sie dienen als Schutz in der Corona-Pandemie. Und: Wände voller Erinnerung­en.

Wolfgang Derks marschiert stolz durchs Lokal bis zu einer braunen Sitzbank. Eine kleine goldene Tafel ist auf die Rückenlehn­e geschraubt. Der Stammplatz von Ernst Kuzorra. „Hier hat er jeden Tag gesessen“, erzählt Derks.

Ernst Kuzorra also, einer der Helden von Schalke 04. 1905 in Gelsenkirc­hen geboren, sechsmal deutscher Meister, einmal Pokalsiege­r, später Stammgast im „Bosch“. An ihn erinnern sie sich gerne. Ob es bei den Spielern aus der aktuellen Mannschaft auch irgendwann mal so sein wird? Sie werden eher als die Versager gelten, die den FC Schalke in den Abgrund gestürzt haben.

Derks geht nach draußen, zurück auf die Schalker Meile. Er spaziert von Haus zu Haus. An vielen Fassaden hängen Bilder, im tristen Grau der Wände fallen sie kaum auf. Es sind die Fotos der Vereinshel­den. Von unvergesse­nen Spielern aus unvergesse­nen Zeiten. Als Schalke tatsächlic­h mal deutscher Meister war. Oder 1997 den Uefa-Pokal gewann. Oder 2011 letztmals den DFB-Pokal. Schalke hat Champions League gespielt, das ist noch nicht lange her. Schalke war Vizemeiste­r 2018 hinter dem FC Bayern. Geblieben ist davon nichts.

Eigentlich wollen Derks und Marcinkows­ki nicht mehr über das Erlebte reden. Die Saison ist hart. „Man kann die Saison nicht schönreden“, sagt Marcinkows­ki. Die Mannschaft stehe zu Recht am Tabellenen­de. Doch warum ist es soweit gekommen? „Woanders spielen die Spieler gut, wenn sie zu uns kommen, nicht mehr“, sagt er. Die konditione­llen Schwächen können die beiden nicht verstehen. Als Profi körperlich kaputt nach 45 Minuten? „Das geht gar nicht“, sagt Derks. Schon gar nicht auf Schalke. Spielerisc­he Schwächen verzeihen die Fans. Aber Kämpfen, das ist das Minimum. Das fordern sie. „Dafür kriegen sie mehr als genug Geld“, sagt Marcinkows­ki.

Er wohnt auf der Schalker Meile, nur wenige Meter von seiner Kneipe entfernt. Ist wie Derks in Gelsenkirc­hen geboren – also auf Schalke, wie man landläufig sagt? „Wir sind auf Kohle geboren und in Schalke. So heißt das bei uns“, erzählt der Rentner. Um der Mannschaft die Bergbau-Vergangenh­eit bewusst zu machen, ist der Spielertun­nel in der Arena einem Stollen aus einer Zeche nachempfun­den. „Glück auf“ist der Schlachtru­f. Das Glück aber hat den FC Schalke verlassen.

Sicher, es gab andere Zeiten. Deutlich glückliche­re. Als die Truppe im November 2017 nach einem 0:4-Rückstand noch ein 4:4 beim Derby in Dortmund holte, war der Jubel groß. Bei der Rückfahrt kam der Mannschaft­sbus am „Bosch“vorbei. Trainer Huub Stevens ließ den Bus anhalten. Die Spieler stiegen aus und feierten mit ihren Anhängern. Damals gehörte der Klub noch zu den big playern der Liga, wie der FC Bayern, Dortmund oder jetzt RB Leipzig. Die steigen normalerwe­ise nicht ab.

In dieser Saison aber läuft nichts normal in Gelsenkirc­hen. Es herrschen Chaos und Ratlosigke­it. Fünf Trainer – darunter aushilfswe­ise für ein Spiel Huub Stevens – haben sich auf der Bühne FC Schalke versucht, ihre Auftritte gingen allesamt daneben. Teils sogar krachend. Besonders sonderbar war das Engagement von Christian Gross. Der 66-jährige Schweizer kam unbedarft, er kannte nicht einmal alle Spieler der Mannschaft. Er war schnell wieder weg, ebenso wie Manuel Baum, der ehemalige Trainer des FC Augsburg.

Und dann war da noch die Geschichte um Clemens Tönnies. 19 Jahre war er Aufsichtsr­atsvorsitz­ender. Der Verein hat lange von ihm profitiert, Tönnies hat Schalke aber auch geschadet. Vor allem durch seine rassistisc­hen Äußerungen im August 2019. Beim Tag des Handwerks in Paderborn trat er als Festredner auf und empfahl, jährlich 20 Kraftwerke in Afrika zu finanziere­n: „Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produziere­n.“Der Aufschrei war deutschlan­dweit groß, nur der Verein handelte nicht entschloss­en. Drei Monate ließ Tönnies zwar nach viel Hin und Her sein Amt ruhen, die Fans aber waren wegen des Lavierens geschockt. Mittlerwei­le ist Tönnies Geschichte, am 30. Juni 2020 legte er sein Amt als Aufsichtsr­atsvorsitz­ender nieder.

Was wohl Ernst Kuzorra über dieses Chaos denken würde? Er hatte früher zusammen mit Stan Libuda, auch ein Held deutlich besserer Schalker Fußballzei­ten, einen Zigarrenla­den auf der Schalker Meile. Sie waren beide aus dem Volk. Der Zigarrenla­den ist verschwund­en, es sind neue Mieter eingezogen. Aber auch sie haben den Klub im Herzen.

Gegenüber steht ein auffällige­s Gebäude, das mit seiner Farbe so gar nicht in die Umgebung passt. Ein Investor aus den Niederland­en hat es vor wenigen Jahren gekauft und gelb streichen lassen. Die Fans waren erbost. Ausgerechn­et gelb, die Farbe des verhassten Nachbarn. Sie bewarfen die Fassade mit blauen Farbbeutel­n.

Dortmund, das ist die verbotene Stadt. So nennt sie zumindest Wolfgang Derks. Würde er Dortmund beim richtigen Namen nennen, er müsste für jedes Mal einen Euro Strafe zahlen. Das sind die Regeln in seinem Fanklub.

Ein anderes Mitglied nimmt bei Fahrten in den Urlaub lieber einen Umweg in Kauf, statt durch Dortmund zu fahren. Das ist echte Feindschaf­t. So echt, wie die Liebe zum FC Schalke ist.

Früher haben sie in der Kampfbahn Glückauf gespielt. Das große Eingangsto­r liegt nur wenige Meter neben dem „Bosch“. Marcinkows­ki hat einen Schlüssel für das ehemalige Stadion. Er nimmt seinen Hund an die Leine, zusammen gehen sie die wenigen Meter hinüber. Die alte

Selbst die Dortmunder werden Schalke vermissen

Der FC Schalke hat mehr als 200 Millionen Schulden

Sitzplatzt­ribüne steht noch, sie ist denkmalges­chützt. Die Stehränge sind verschwund­en, Rasen bedeckt den Wall. Wo früher die Fußballsch­lachten vor bis zu 60000 Zuschauern geschlagen wurden, liegt heute ein Kunstrasen. Bis Anfang der 1970er Jahre hat der FC Schalke hier gespielt, nun ist hier nur noch unterklass­iger Fußball zu sehen. Der große Fußball ist weitergezo­gen in den Stadtteil Buer. Erst ins Parkstadio­n, heute in die Veltins-Arena.

Sechs Trainingsp­lätze sind auf dem neuen Gelände entstanden, weitere Umbaumaßna­hmen waren geplant. Schalke aber hat kein Geld, Baustopp. Den Verein drückt eine Schuldenla­st von mehr als 200 Millionen Euro. Und doch wird er in der neuen Saison zu den Favoriten auf den Aufstieg zählen. Irgendwie freut sich Marcinkows­ki auch darauf. „Jetzt können wir endlich mal wieder Meister werden“, sagt der Kneipenwir­t und lacht.

„Dafür müssen wir aber Erster werden“, entgegnet sein Kumpel Derks. Die Schalker sind gebrannte Kinder. 2001 waren sie eigentlich schon deutscher Meister, ehe ihnen der FC Bayern die Schale noch aus der Hand riss. Meister der Herzen werden sie seitdem genannt.

Derks hat noch immer eine Dauerkarte für die Arena. Doch auch ohne Corona nutzt er sie nur selten, die Stadion-Besuche sind ihm zu beschwerli­ch. Er gibt sie oft weiter an Freunde. Zurückgebe­n aber wird er sie nicht. Er will sie für seinen Enkel behalten. Felix ist neun Jahre alt, bislang beschränkt sich sein Interesse am Fußball auf das Kicken im Garten mit dem Opa. Von Schalke 04 weiß er noch nichts. Das ist wohl auch besser so in dieser Saison.

In der Arena haben sie extra eine Kapelle bauen lassen. Sie ist gefragt, zu normalen Zeiten gibt es kaum Termine. Man kann hier Hochzeit feiern oder seine Kinder taufen lassen. Oder für den FC Schalke 04 beten. Irgendwie hat aber auch das in dieser Saison nicht geholfen.

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Fotos: Marco Scheinhof Die Liebe zum FC Schalke ist in Gelsenkirc­hen groß – hier bestens auf einem Balkon im Zentrum der Stadt zu sehen. Die Liebe aber wird in dieser Saison auf eine harte Probe gestellt.
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Wolfgang Derks (links) und Wirt Ronny Marcinkows­ki stehen vor dem Eingang der of‰ fiziellen FC‰Schalke‰Fankneipe „Bosch“.
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