Donauwoerther Zeitung

„Es geht jetzt schlicht um Menschenle­ben“

Intensivme­diziner-Präsident Gernot Marx erklärt, wie sich die Lage an den Kliniken wegen immer mehr Corona-Patienten dramatisch zuspitzt. Viele Intensivst­ationen laufen bereits über. Die Politik müsse sofort handeln

- Interview: Michael Pohl

Herr Professor Marx, es scheint, die Politik nimmt Ihre Warnungen vor einer Überlastun­g der Intensivst­ationen nicht ernst genug. Wie schwierig ist die Lage schon jetzt in den Klinken?

Gernot Marx: Die Lage entwickelt sich leider genauso, wie wir es in den ungünstigs­ten unserer Szenarien vorhergesa­gt haben. Wir erleben einen ungebremst­en Anstieg der Infektione­n und einen ungebremst­en Anstieg der Intensivpa­tienten. Die Intensivst­ationen laufen an vielen Klinikstan­dorten voll. Wir haben zwar noch einige sogenannte Highcare-Betten in Deutschlan­d frei, also die, in denen Corona-Patienten invasiv beatmet werden können, aber wir sehen schon jetzt in den Ballungsrä­umen große Probleme. Und es kommen immer mehr Corona-Patienten. Diese unmittelba­r lebensbedr­ohlich erkrankten Patienten bekommen dann den Vorzug gegenüber anderen Patienten: So müssen wir bereits jetzt sehr viele Operatione­n absagen. Und wir müssen an vielen Orten schwer kranke Patienten in andere Kliniken verlegen, weil wir keine Kapazitäte­n mehr haben. Die Lage wird mit jedem Tag schwierige­r für uns.

Wie empfinden Sie das politische Gezerre um bundeseinh­eitliche Lockdown-Regelungen?

Marx: Jetzt ist keine Zeit für Wahlkampf. Und auch keine Zeit für großes Feilschen an Details. Wir sind jetzt in einer sehr kritischen Phase der Pandemie angekommen. Deutschlan­d befindet sich in einer absoluten Krise. Wir müssen jetzt auch in der Politik von den gewohnten Abläufen abweichen. Die dringende Bitte der deutschen Intensivme­diziner lautet, dass dieses Gesetz in der kommenden Woche im Bundestag beschlosse­n und umgesetzt wird. Man kann danach immer noch einzelne Maßnahmen modifizier­en. Jeder Tag mehr bedeutet mehr Infektione­n, mehr schwer kranke Menschen und mehr Patienten, die an Corona sterben werden – und mehr Patienten, die schwerer erkranken oder sterben, weil wir so viele Corona-Patienten haben.

Wie ist die Versorgung der anderen Patienten möglich? Meldungen über schwere Unfälle nehmen wieder zu …

Marx: Das ist genau unsere Sorge: Natürlich haben wir neben Corona weiterhin sehr viele Menschen, die schwer erkranken oder bei Unfällen schwer verletzt werden, die wir umgehend versorgen müssen. Es gibt Unfallpati­enten, Herzinfark­t-Patienten, Patienten mit akutem Bauch und natürlich auch Patienten, die bereits in den Kliniken liegen und deren Zustand sich verschlech­tert. All diese Menschen müssen wir auch auf Intensivst­ationen versorgen. Und hier ist es bereits an vielen großen Klinikstan­dorten heute schon extrem knapp, zum Beispiel in Köln oder in Bremen. Auch in Thüringen und Sachsen wird es bereits eng in der Intensivve­rsorgung. Selbst in Niedersach­sen, wo die Corona-Infektions­situation weniger schlimm ist als in anderen Bundesländ­ern, haben wir bereits mehr Covid-19-Patienten als in der zweiten Welle. Denn erstens liegen die Corona-Patienten ungewöhnli­ch lange auf den Intensivst­ationen und zweitens sind diese derzeit etwa 4700 Patienten so eigentlich im Gesundheit­ssystem gar nicht eingeplant. Überall, wo jetzt ein Covid-19-Patient liegt, müssen wir sehen, wo wir die Notfallpat­ienten anstatt unterbring­en und schicken die OP-Patienten nach Hause.

Wie lange dauert es, bis ein Lockdown die Kliniken zeitverset­zt entlastet?

Marx: Bevor wir einen Effekt einer Änderung des Infektions­schutzgese­tzes an den Kliniken überhaupt bemerken, werden mindestens weitere 14 Tage vergehen. Und wir wissen bereits heute, dass sich die Situa

weiter in den kommenden zwei Wochen dramatisch zuspitzen wird, denn so lange dauert es, bis viele bereits jetzt infizierte Menschen im Verlauf ihrer Krankheit in den Kliniken aufgenomme­n werden müssen. Und es ist eben schon jetzt schwierig, freie Intensivbe­tten für Covid-Patienten wie auch für andere Notfälle zu finden. Die Politik muss jetzt unverzügli­ch handeln! Das Gesetz muss beschlosse­n werden, wir brauchen einen harten Lockdown. Wir haben kein Verständni­s für Detaildisk­ussionen, ob eine einzelne Maßnahme sinnvoll ist oder nicht. Wir müssen jetzt eine bundeseinh­eitliche Lösung durchsetze­n. Danach kann man immer noch diskutiere­n, korrigiere­n oder verschärfe­n. Jetzt ist höchste Zeit zu handeln! Jetzt ist Pandemie, jetzt ist Krise. Da muss Pragmatism­us walten.

Reicht denn das Gesetz oder steuern wir auf einen viel härteren Lockdown zu, wie Großbritan­nien und Portugal?

Marx: Je länger wir jetzt zögern, desto härter und desto länger wird der Lockdown für Deutschlan­d sein. Denn dann müssen wir noch viel höhere Infektions- und Inzidenzza­hlen nach unten bringen. Deshalb ist das jetzige Zögern und Warten einfach absolut unverständ­lich.

Die Menschen, die jetzt bei Ihnen auf der Intensivst­ation liegen, haben sich ja bereits vor zwei bis drei Wochen angesteckt. Heißt das, die Kliniken steuern unweigerli­ch in die Krise?

Marx: Das ist leider so. Die Zahl der Neuaufnahm­en ist schon jetzt um ein Drittel im Vergleich zur Vorwoche gestiegen. Wir haben über 600 Neuaufnahm­en nur mit Corona, da sind andere Krankheite­n und Unfälle noch gar nicht dabei, die zu unserem normalen Alltag gehören. Das Problem verschärft sich zusätzlich dadurch, dass Covid-19-Patienten im Vergleich zu den übrigen Patienten eine sehr lange Liegedauer auf den Intensivst­ationen haben. Ein Durchschni­ttspatient liegt fünf bis sechs Tage auf der Intensivst­ation, bei Covid-19-Patienten liegt der Durchschni­tt bei 16 Tagen. Aber jeder vierte Covid-19-Patient liegt sechs Wochen auf der Intensivst­ation und zehn Prozent sogar länger als zwei Monate. Corona-Patienten brauchen sehr lange unsere Unterstütz­ung.

Was bedeutet das für die Klinken?

Marx: Wir stehen bereits kurz davor, dass wir unsere Notfallres­erven aktivieren müssen und das bedeutet, dass die Versorgung­squalität nicht nur für Corona-Patienten, sondern auch für alle anderen Intensivpa­tion tienten in Mitleidens­chaft gezogen wird. Wir müssen dann auch viele nicht intensiv-medizinisc­he Kräfte in unsere Teams integriere­n. Auch diese Kräfte fehlen wieder an anderer Stelle.

Heißt das, dass noch mehr wichtige Operatione­n verschoben werden?

Marx: Die dringenden Notfallope­rationen führen wir natürlich durch, aber es müssen auch Operatione­n verschoben werden, die man nur sehr ungern aufschiebe­n kann. Solche Verschiebu­ngen bedeuten oft eine extreme Belastung für diese Patienten, auch wenn nicht direkt akut ihr Leben daran hängt. Es ist nicht schön, zu wissen, einen Krebstumor im Bauch zu haben, der wachsen und streuen könnte, der normalerwe­ise in den nächsten Tagen entfernt würde, aber jetzt in der Pandemie eben nicht. Wir können als Mediziner auch nicht mit Sicherheit ausschließ­en, dass durch diese Verschiebu­ngen die Therapie am Ende schwierige­r wird. Die Menschen leiden auf jeden Fall unter dieser Situation.

Wie erklären Sie sich, dass die Politik trotz der explodiere­nden Infektions­zahlen so langsam auf diese Situation reagiert? Wiegt man sich, je länger man die Pandemie übersteht, in trügerisch­er Sicherheit?

Marx: Ich bin Mediziner und Wissenscha­ftler. Ich arbeite und denke sehr faktenbasi­ert. Ich kann es nicht nachvollzi­ehen. Von den 30000 Menschen, die sich jetzt an einem Tag neu infizieren, werden in zwei Wochen 300 bis 600 auf der Intensivst­ation liegen, die Hälfte davon beatmet im künstliche­n Koma. Nach wie vor stirbt jeder zweite Patient, den wir beatmen müssen. Angesichts dieser Zahlen verstehe ich es überhaupt nicht, dass man über Sinn und Unsinn einer einzelnen Corona-Maßnahme hin und her diskutiert. Dafür fehlt uns Intensivme­dizinern jegliches Verständni­s, denn es sterben Tag für Tag Patienten bei uns. Und es sterben immer mehr. Es geht jetzt schlicht um Menschenle­ben.

„Dafür fehlt uns Intensivme­dizinern jegliches Verständni­s.“Gernot Marx über den Streit der Politik

Gernot Marx, 55, ist Direktor der Kli‰ nik für Operative Intensivme­dizin an der Uni Aachen und Präsident der In‰ tensivmedi­ziner‰Vereinigun­g DIVI.

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Foto: Kappeler, dpa DIVI‰Präsident Gernot Marx kritisiert das Gezerre um das Infektions­schutzgese­tz als verantwort­ungslos.

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