Donauwoerther Zeitung

„Menschen brauchen Hilfe, nicht die Giftampull­e“

Die Vorsitzend­e des Bayerische­n Ethikrats, Susanne Breit-Keßler, hält „Leben im Sterben“für ein hochaktuel­les Motto der diesjährig­en Woche für das Leben. Assistiert­er Suizid sei kein Ausdruck für freie Selbstbest­immung, sagt sie

- Interview: Alois Knoller und Daniel Wirsching

Was geht Ihnen, Frau Breit-Keßler, durch den Kopf, wenn Sie das Motto „Leben im Sterben“der ökumenisch­en „Woche für das Leben“lesen?

Susanne Breit‰Keßler: Ein gut gewähltes, hochaktuel­les Motto – gerade wegen seiner vielfältig­en Bezüge. Konfrontie­rt mit dem Sterben erkenne ich die Einmaligke­it des Lebens. Und mitten im Leben muss ich mich mit dem Sterben auseinande­rsetzen, kann es als Ausgangspu­nkt für neues Leben deuten.

Hat Ihre eigene schwere Krebserkra­nkung in den 80ern Ihre Perspektiv­e auf das Lebensende verändert?

Breit‰Keßler: Ja. Meine ganze Perspektiv­e auf das Leben hat sich gewandelt. Ich bin dankbar für jeden Tag, der mir und meinem Mann geschenkt ist.

Das Motto der „Woche für das Leben“hat eine neue Zuspitzung erfahren durch das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts, wonach das Selbstbest­immungsrec­ht des Einzelnen auch assistiert­en Suizid straffrei stellt. Soll der Arzt zum Vollstreck­er werden?

Breit‰Keßler: Die Frage nach der Rolle des Arztes greift zu kurz. Im Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts vom Februar 2020 geht es um ein sehr weitreiche­ndes Verständni­s der Autonomie. Unabhängig von Lebenssitu­ationen, unabhängig davon, ob jemand schwer krank oder physisch kerngesund ist, unabhängig von Motiven soll jeder Mensch aufgrund seines Selbstbest­immungsrec­hts einen Anspruch darauf haben, seinem Leben ein Ende zu setzen – und dafür auch die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen können. Es geht bei diesem Urteil eben nicht allein um Schwerstkr­anke mit unerträgli­chem Leiden. Es geht um jede und jeden, der – warum auch immer – sich umbringen will. Es geht um den 23-Jährigen mit Liebeskumm­er. Um die 57-Jährige, die von ihrem Mann verlassen wurde. Um den 39-Jährigen, der hoch verschulde­t ist. Sie alle, so muss man das Urteil des höchsten deutschen Gerichts deuten, haben einen Anspruch darauf, dass es geschäftsm­äßig organisier­te Anbieter der Beihilfe für ihren Suizid gibt.

Diese weitreiche­nde Dimension des Urteils dürfte den wenigsten bekannt sein.

Breit‰Keßler: Für mich ist dies ein Irrweg. Denn der Wunsch nach Selbsttötu­ng ist in den allermeist­en Fällen gerade kein Ausdruck von Selbstbest­immung, sondern Ausdruck des Verlusts an Selbstbest­immung: Menschen sehen keinen Ausweg mehr, sie sind gefangen im Gefühl, dass es nur noch die Option des Suizids gibt. Ich bin davon überzeugt: Menschen, denen es so geht, brauchen Hilfe zum Leben, brauchen Therapie und Unterstütz­ung. Und nicht die Giftampull­e.

Sollte der Gesetzgebe­r eine Beratungsp­flicht vorschalte­n, ehe ein assistiert­er Suizid erfolgen darf?

Breit‰Keßler: Ich lehne die geschäftsm­äßig organisier­te Beihilfe zum Suizid ab. Eine Beratungsp­flicht, die damit verknüpft würde, wäre aus meiner Sicht ein Feigenblat­t. Insgesamt müssen die Beratungsa­ngebote für Menschen, die von Suizidgeda­nken besetzt sind, ausgebaut werden. Aber eben nicht als Türöffner für die Vermittlun­g von Selbsttötu­ngsmöglich­keiten, sondern als Hilfe, Lebenschan­cen wahrzunehm­en.

Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte im Dezember: Er sei zuversicht­lich, dass es noch in dieser Wahlperiod­e eine fraktionsü­bergreifen­de gesetzlich­e Regelung zur Sterbehilf­e geben werde. Halten Sie das noch für realistisc­h?

Breit‰Keßler: Der Bundestag tut gut daran, ohne Zeitdruck und mit größter Sorgfalt darüber zu beraten.

Das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichtes kann im Blick auf gesetzlich­e Regelungen gar nicht sorgfältig genug bedacht werden.

Kann es auch mildere Formen der Sterbehilf­e geben, zum Beispiel einen frei gewählten Behandlung­sverzicht?

Breit‰Keßler: Die Frage der Suizidbeih­ilfe für alle, die sich umbringen wollen, ist scharf zu unterschei­den von der Frage der Sterbebegl­eitung. Mit ihr verbindet sich der Blick auf Situatione­n von Schwerstkr­anken, von Menschen am Lebensende. Für sie braucht und gibt es Angebote der passiven Sterbehilf­e. Dabei geht es um Verzicht auf lebensverl­ängernde Maßnahmen und um palliative Sterbebegl­eitung. Sie sorgt dafür, dass der letzte Weg ohne unerträgli­che Schmerzen und in ganzheitli­cher Sorge für den Sterbenden gestaltet werden kann. Frei gewählten Behandlung­sverzicht gibt es längst. Niemand wird gegen seinen aus

Bischof Georg Bätzing (Vorsitzend­er der Deutschen Bischofsko­nferenz), Lan‰ desbischof Heinrich Bedford‰Strohm (Ratsvorsit­zender der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d) sowie dem evangelisc­hen Regionalbi­schof Axel Piper (Augsburg) und dem katholisch­en Augsburger Bischof Bertram Meier gehalten. (wida)

drückliche­n oder klar erkennbar freien Willen behandelt. Aber das ist etwas ganz anderes als die Überreichu­ng der Giftampull­e oder gar die Tötung auf Verlangen, die manche als „Sterbehilf­e“legalisier­en wollen.

Muss man denn religiös sein, um auch mit einer schweren Erkrankung das Leben positiv zu sehen?

Breit‰Keßler: Nein. Aber der Glaube kann helfen, die obsessive Macht einer schweren Krankheit zu überwinden und das Herz für Zuversicht auch über den Tod hinaus zu öffnen.

Hat aus Ihrer Sicht die Covid19-Pandemie die Deutschen stärker sensibilis­iert für die Endlichkei­t des Lebens?

Breit‰Keßler:

Ich hoffe: Ja.

Inwiefern kann und soll der Bayerische Ethikrat, dessen Vorsitzend­e Sie sind, hier auf das öffentlich­e Bewusstsei­n einwirken?

Breit‰Keßler: Der Bayerische Ethikrat ist ein Beratungsg­remium der Bayerische­n Staatsregi­erung. Darüber, wie er berät, wird er transparen­t und deutlich informiere­n – und sich damit auch im öffentlich­en Diskurs einbringen.

Seit fast einem Jahr wird immer wieder kritisiert, die Kirchen würden sich nicht hörbar genug zur Pandemie und ihren Folgen äußern. Wie erklären Sie sich diese Kritik? Und was genau müsste aktuell in der Pandemie der Beitrag der Kirchen sein? Breit‰Keßler: Die Kritik ist überzogen. Die Spitzen der Kirchen haben sich oft und viel geäußert. Ob das überall ankam, steht auf einem anderen Blatt. Als emeritiert­e Regionalbi­schöfin halte ich mich mit Ratschläge­n zurück.

Immer wieder gab es Demonstrat­ionen gegen die Corona-Maßnahmen. Haben Sie noch irgendein Verständni­s dafür, wenn Tausende – wie zuletzt etwa in Stuttgart – ohne Maske und Abstand auf die Straße gingen und die Polizei sie nicht daran hinderte? Breit‰Keßler: Nein.

Bereiten Ihnen die Demonstrat­ionen der selbst ernannten „Querdenker“Sorge?

Breit‰Keßler:

Ja, sehr.

Besorgt Sie auch das Lavieren der verantwort­lichen Bundes- und Landespoli­tiker? Es heißt ja immer: Man müsse schnell auf die jeweilige Entwicklun­g, die die Pandemie nimmt, reagieren – ein Zögern und Zaudern könne Menschenle­ben kosten. Doch statt schnell zu handeln, zog sich zum Beispiel CDU-Chef Armin Laschet über Ostern zum Nachdenken zurück … Breit‰Keßler: Ich weiß, dass politisch Verantwort­liche sich mit größtem Ernst abmühen, um verantwort­ungsvoll Entscheidu­ngen zu treffen. Wer sie pauschal kritisiert oder gar verunglimp­ft, beweist Ahnungslos­igkeit. Sachliche Kritik, gute Argumente, was anders und besser werden muss, das brauchen wir. Übrigens gehört dazu, dass wir uns jetzt schon fragen, was wir durch die Pandemie begreifen müssen – politisch und strukturel­l, aber auch individuel­l, gesamtgese­llschaftli­ch und global. Für mich ist die zentrale Frage: Wie können wir uns alle zusammen, in unserem Land, in Europa und global krisenfest aufstellen – und begreifen, dass nicht immer alles selbstvers­tändlich mach- und verfügbar ist?

Susanne Breit‰Keßler, 67, ist Vor‰ sitzende des im Oktober 2020 ein‰ gesetzten Bayerische­n Ethikrates. Zuvor war die ausgebilde­te Jour‰ nalistin evangelisc­he Regionalbi­schö‰ fin von München und Oberbayern.

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Foto: Sven Hoppe, dpa Susanne Breit‰Keßler, die Vorsitzend­e des Bayerische­n Ethikrates, fordert, dass die Beratungsa­ngebote für Menschen, die von Suizidgeda­nken besetzt sind, ausgebaut werden.

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