Donauwoerther Zeitung

Ist Deutschlan­d reif für eine grüne Kanzlerin?

Annalena Baerbock versucht, fehlende Erfahrung mit Empathie zu kompensier­en. Eine riskante Strategie, denn gutes Regieren will gelernt sein

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger‰allgemeine.de

Selbst im grünen Biotop wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Mit Annalena Baerbock hat die Partei zwar in selten erlebter Einmütigke­it ihre K-Frage geklärt, dass der Hype um die Grünen die 40-Jährige tatsächlic­h ins Kanzleramt trägt, ist damit aber noch lange nicht gesagt. Auch vor den letzten beiden Bundestags­wahlen lag die Partei in den Umfragen deutlich besser als am Wahlabend. Je näher der Tag der Entscheidu­ng rückt, umso genauer achten die Wähler schließlic­h auf die Folgen, die die Politik der Grünen für sie hätte. Und es macht eben einen Unterschie­d, sich in Umfragen unverbindl­ich zu grünen Herzensanl­iegen wie dem Klimaschut­z zu bekennen oder ihn über höhere Spritpreis­e oder Steuern tatsächlic­h mitfinanzi­eren zu müssen.

Die Entscheidu­ng für Annalena Baerbock folgt gleichwohl einer gewissen Logik. Wer, wenn nicht die Grünen, sollte im Zweifel einer Frau dem Vorzug vor einem Mann geben? Wo, wenn nicht bei den Grünen, zählt Empathie mehr als Erfahrung? Überdies ist die Kandidatin der grünen Herzen besser vernetzt in der Partei als Habeck und vermutlich auch den Tick ehrgeizige­r, den es braucht, um in der Politik ganz nach oben zu kommen.

Dass ihr im Gegensatz zu Robert Habeck jede Regierungs­erfahrung fehlt, verzeihen ihr die Grünen großzügig. Ihnen genügen das Selbstbewu­sstsein der jungen Kandidatin, ihre forsche Unbekümmer­theit und das gute Gefühl, es mit ihr schon irgendwie schaffen zu können. Viele Deutsche allerdings werden sich sehr wohl fragen, ob sie eine der größten Volkswirts­chaften der Welt einer Frau anvertraue­n wollen, die noch nicht einmal ein Landratsam­t geführt hat,geschweige­denneinMin­isterium. Gutes Regieren, das wird gerne unterschät­zt, ist auch Handwerk – und das will erlernt und beherrscht werden. Einfach mal rasch die Finanzieru­ng der Nato infrage zu stellen oder den Kohleausst­ieg mal rasch um acht Jahre vorziehen zu wollen, wie die Opposition­spolitiker­in Baerbock es tut – das kann eine Kanzlerin sich nicht erlauben. In diesem Amt, hat der damalige Außenminis­ter Joschka Fischer einmal gesagt, bewege sich ein Politiker „in der Todeszone“. Dort werde der Sauerstoff knapp, die Luft dünn und jeder Fehler unerbittli­ch bestraft.

Anderersei­ts ist die politische

Lage gerade so volatil wie noch nie und auch ein buntes Dreierbünd­nis unter einer grünen Kanzlerin eine denkbare Option. Als Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück gegen Angela Merkel antraten, mussten sie die bittere Erfahrung machen, dass Kanzler zu sein vermutlich um einiges einfacher ist, als Kanzler zu werden. Bei Annalena Baerbock verhält es sich nun genau umgekehrt: Wenn die Union sich weiter in destruktiv­er Lust zerlegt, steigen ihre Chancen auf die MerkelNach­folge. Aber könnte sie auch Kanzlerin? Eine Politik für die Breite der Gesellscha­ft, wie die Kandidatin sie verspricht, schreibt den Menschen jedenfalls nicht vor, wie viel Fleisch sie noch essen dürfen, oder verbietet ihnen gar den Bau eines Einfamilie­nhauses. Zu glauben, mit ihr zöge eine Art Kretschfra­u ins Kanzleramt ein, pragmatisc­h, flexibel und weit in konservati­ve Milieus hinein vermittelb­ar wie der baden-württember­gische Ministerpr­äsident, wäre daher reichlich naiv. So verbindlic­h Annalena Baerbock im Ton sein kann, so hart ist sie in der (grünen) Sache. Sie will Veränderun­g – und das keineswegs nur in homöopathi­schen Dosen.

Aus ihrer Sicht machen die Grünen mit der Kanzlerkan­didatin Baerbock alles richtig: Sie hat das Vertrauen der Basis über alle Parteiflüg­el hinweg, eine enorme mediale Präsenz und damit eine Ausgangspo­sition, wie sie vor ihr noch kein grüner Kandidat je hatte. Ob der Rest des Landes schon reif ist für eine grüne Kanzlerin, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Verbindlic­h im Ton, hart in der Sache

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