Donauwoerther Zeitung

Im Sog von Wirecard

Diese Woche muss auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel vor dem Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestage­s aussagen. Ein politische­r Showdown beginnt, mit dem einer der größten deutschen Wirtschaft­sskandale allerdings noch lange nicht aufgearbei­tet ist. Eine Zwis

- VON STEFAN KÜPPER UND HOLGER SABINSKY‰WOLF

Aschheim/München Da draußen in Aschheim, Einsteinri­ng 35, in diesem grauen Gewerbegeb­iet am Münchner Stadtrand, weist fast nichts mehr auf die Wirecard AG hin. Obwohl hier noch Menschen arbeiten. Die Firmenschi­lder sind abmontiert, irgendwo hängt noch ein kleiner Mitarbeite­r-Hinweis für die Raucher, aber das war’s. Dass hier, in dem vierstöcki­gen Zweckbau mit dem Charme einer Kreisverwa­ltungsbehö­rde, mal Deutschlan­ds aufregends­tes Fintech-Unternehme­n seinen Stammsitz hatte, wirkt im Nachhinein so absurd wie passend. Absurd, weil alles so grundsolid­e ausschaut. Passend, weil es mittelstän­disch anmutet und nicht wie ein milliarden­schwerer Zahlungsdi­enstleiste­r, für den sogar die Bundeskanz­lerin in China Reklame machte. An der nahen Bushaltest­elle pappt ein vergilbend­er Aushang des Gemeindeth­eaters. Auf dem Programm: Flavia Costes Komödie „Nein zum Geld.“

Markus Braun und Jan Marsalek haben die Vorstellun­g eher nicht gesehen. Der frühere Vorstandsv­orsitzende der Wirecard AG sitzt nach wie vor in der JVA Augsburg-Gablingen in Untersuchu­ngshaft. Und Marsalek, der frühere Chief Operating Officer, ist auf der Flucht, verschwund­en, jedenfalls ist über seinen Verbleib nichts bekannt. Als gewiss allerdings darf gelten, dass er und Braun selten „Nein zum Geld“gesagt haben. Und dass ihnen das Lachen schon lange vergangen ist.

Denn im Juni 2020 wurde bekannt, dass Wirecard 1,9 Milliarden Euro fehlten, die in der Bilanz ausgewiese­n waren. Wenig später musste das Unternehme­n Insolvenz anmelden und Deutschlan­d hatte einen der größten Wirtschaft­sskandale der letzten Jahrzehnte, der noch lange nicht aufgearbei­tet ist. Nicht juristisch, nicht finanziell, nicht politisch. Die Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft München I laufen, das Insolvenzv­erfahren läuft, der Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestage­s tagt. Es steht eine entscheide­nde Woche mit prominente­n Zeugen an. Heute müssen Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier (CDU) und Digitalsta­atsministe­rin Dorothee Bär sich den Fragen stellen, am Donnerstag Bundesfina­nzminister und SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz und am Freitag Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU).

Es geht dabei im heraufzieh­enden Bundestags­wahlkampf um die politische Verantwort­ung für den mutmaßlich­en Milliarden­betrug. Es gibt sehr viele offene Fragen in schwer zu überschaue­nder Gemengelag­e. Nur ein paar Beispiele: Altmaiers Ressort ist für die Abschlussp­rüferaufsi­chtsstelle (APAS) zuständig, die wiederum für EY zuständig war. Jene Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t, die Wirecard-Bilanzen jahrelang testiert hatte und deswegen nun heftigst in der Kritik steht. Scholz’ Finanzmini­sterium hat die Aufsicht für die Bundesanst­alt für Finanzdien­stleistung­saufsicht (Bafin). Auch diese Behörde muss sich nach wie vor viele sehr kritische Fragen anhören. Der frühere Bafin-Chef Felix Hufeld ist nicht mehr im Amt. Oder: Warum setzte sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel auf einer China-Reise für die Wirecard AG ein, obwohl es zu diesem Zeitpunkt schon offensicht­liche Zweifel an deren Vertrauens­würdigkeit gab? Es wird eine spannende Woche.

Der Bundestags­abgeordnet­e Fabio de Masi sitzt für die Linken im Wirecard-Ausschuss. Er sagt: „Die Kanzlerin muss nun beantworte­n, warum sie sich trotz der Warnung der Financial Times und der Absage eines Termins mit CEO Markus Braun beim mächtigste­n Mann Chinas für Wirecard engagiert hat. Olaf Scholz muss sich der Frage stellen, warum die Bundesregi­erung Wirecard auch nach den Vorwürfen noch wie einen „nationalen Champion“behandelt hat. Insbesonde­re muss zu den etwaigen Rettungspl­änen durch Kredite der Commerzban­k und KfW aussagen“

Wie konnte das alles passieren? Das fragt sich auch Jörn Leogrande. Er weiß es auch nicht genau, aber der 57-Jährige kann zumindest manches besser erklären. Der Germanist war seit 2005 bei Wirecard. Er hat den Aufstieg vom kleinen Zahlungsdi­enstleiste­r für das Porno- und Glücksspie­lgeschäft, der Wirecard zu Beginn war, bis zum Dax-Konzern mit namhaften internatio­nalen Großkunden aus nächster Nähe begleitet. Leogrande begann im Marketing, leitete die Abteilung dann, stieg weiter auf und war ab 2017 Chef der globalen Innovation­sabteilung.

Leogrande sagt: „Die Aufklärung des Wirecard-Skandals könnte ewig dauern, bis das in all seinen Details aufgeklärt ist.“

Leogrande arbeitet nicht mehr bei Wirecard. Er quittierte den Dienst, verließ das Unternehme­n am 8. August vergangene­n Jahres und kam damit, wie er sagt, allerdings nur seiner eigenen Kündigung zuvor. Er war 15 Jahre dabei, berichtete direkt an den Ex-WirecardCh­ef Markus Braun und arbeitete über Jahre „eng“mit dem passionier­ten Slimfithem­d-Träger Jan Marsalek zusammen. Leogrande hat ein Buch über seine Wirecard-Jahre geschriebe­n. Es heißt „Bad Company“und er hat es verfasst, so schreibt er, „um die Wirecard-Story und meinen Anteil daran nachvollzi­ehbar zu machen. Ich schreibe diesen Text auch, um persönlich mit meiner Vergangenh­eit bei der Wirecard AG abzuschlie­ßen.“Nun könnte man natürlich fragen, ob das gelingt, wenn man danach, wochenlang Promotion für das Buch macht. Anderersei­ts wird man als Sachbuchau­tor in Deutschlan­d in aller Regel auch kein Millionär.

Mit Leogrande kann man bei einem kleinen Spaziergan­g durch noble Münchner Viertel Bogenhause­n leicht ein, zwei Stunden verplauder­n. Man kommt dabei auch an der Prinzregen­tenstraße vorbei, wo jene geheimnisv­olle Villa steht, in der Marsalek, Leograndes mit internatio­nalem Haftbefehl gesuchter ExVorgeset­zter, Gäste empfangen haben soll. Leogrande hat eine sanfte Stimme, das internatio­nale JetsetVoka­bular, die Fintech-Anglizisme­n kommen ihm leicht über die Lippen. Er sei noch nie in diesem Haus gewesen, sagt er.

Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt nicht gegen ihn, wie er versichert. Er gehört nicht zu den Beschuldig­ten. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob er irgendetwa­s bereut? Der Familienva­ter antwortet: „Natürlich wäre es aus heutiger Sicht besser gewesen, noch intensiver zu fragen. Aber wissen Sie, Sie gehen nicht zu Markus Braun und sagen: Erzähl mir doch bitte die Details der Bilanz. Das ist ja nichts, was ich wirklich hätte machen können.“Es war auch nicht so, dass er zur Staatsanwa­ltschaft hätte gehen können, um denen zu sagen: Ich erzähle euch jetzt mal eine richtig gute Geschichte. „Ich hatte nichts. Und das war bei den meisten so.“Natürlich, sagt er, wäre es besser gewesen, wenn er das Unternehme­n an einem gewissen Punkt verlassen hätte. „Aber das sagt man rückblicke­nd. Dann ist das immer easy.“Natürlich habe auch er sich gefragt, wieso der Gewinn über Jahre so stabil bleiben konnte und das niemand komisch vorgekomme­n sei.

Aber klar, hinterher sind viele schlauer. Und wer sagt denn tatsächlic­h „Nein zum Geld“?

Die große Wirecard-Illusion maScholz nifestiert sich vielleicht auch an Marsalek. Den charismati­schen Österreich­er hat auch Leogrande als genau das in Erinnerung: „Er hatte Manieren, er hatte Stil, er konnte ein Netzwerk einfangen, kannte die entscheide­nden Leute, hatte einen Sinn für Perfektion.“Anderersei­ts, so erzählt Leogrande, war das operative Geschäft nicht so das Ding des Chief Operating Officer. Es sei keine Seltenheit, dass sich Marsalek über ein halbes Jahr bei Mitarbeite­rn zu laufenden Projekten nicht gemeldet hätte. Im Gegensatz zu Braun, der „nicht so der Natural Born Killer der großen Stage war“, sei Marsalek aber „völlig in seiner Rolle aufgegange­n“. Zugleich, so sein Eindruck, habe Marsalek allerdings „ein inneres Wertesyste­m“gefehlt.

Leogrande macht das an einer beispielha­ften Situation fest, in der Marsalek ihn gefragt habe, ob er ein Foto von sich im Büro aufhängen solle. Zwar eine Karl-Lagerfeld-Fotografie, die am Rande eines ModeShotin­gs entstanden sei. Anderersei­ts sei Marsalek oben ohne gewesen. Klar, sein COO habe die Figur eines Kampfschwi­mmers gehabt, Leogrande habe aber dennoch geantworte­t: „Jan, das geht gar nicht, du bist halb nackt.“Marsalek habe nur erwidert: „Wieso? Ist doch ein Karl Lagerfeld.“Leogrande ist sich sicher: „Ein normales Vorstellun­gsgespräch bei einem anderen Konzern hätte Marsalek nicht überstande­n.“

Wirecard aber hatte offensicht­lich einen eigenen Sog, dem sich auch Leogrande nicht entzog. Er war vorher freier Journalist, Werbetexte­r, Marketings­pezialist gewesen. Sein Engagement bei Wirecard war für ihn „die Gelegenhei­t von Beginn an, an so einer Tech-Wunder-Geschichte zu arbeiten. Wie oft haben Sie das im Leben? Nicht so häufig. Je mehr das wuchs, desto mehr Leute wollten da mitmachen. Das hatte schon seine ganz eigene Faszinatio­n.“

Der erlagen viele. Mitarbeite­r, Kunden, Aktionäre, Politiker, Journalist­en. Bis die Zweifel am deutschen Tech-Wunder, das die Commerzban­k aus dem Dax verdrängt hatte, immer größer wurden. Bis dann, am 18. Juni 2020, zum vierten Mal in Folge der Veröffentl­ichungster­min für den Jahres- und Konzernabs­chluss erneut verschoben wurde, weil den Wirtschaft­sprüfern von EY bei Wirecard Nachweise über Bankguthab­en in Höhe von 1,9 Milliarden Euro fehlten.

Wenige Tage später musste der Konzern Insolvenz anmelden. 58 Gesellscha­ften gehörten damals zur Wirecard-Gruppe. Insolvenzv­erwalter wird Michael Jaffé, bundesweit bekannt und mit viel Erfahrung im Abwickeln großer Unternehme­n.

Und die Dimension im Fall Wirecard ist herausford­ernd: Im November 2020 fand die erste Gläubigerv­ersammlung im Münchner Löwenbräuk­eller am Stiglmaier­platz statt. Laut Amtsgerich­t München nahmen daran 74 Personen teil, die rund 11500 Gläubiger vertreten. Die damals angemeldet­en Insolvenzf­orderungen beliefen sich den weiteren Gerichtsan­gaben zufolge auf knapp 12,5 Milliarden Euro.

Als es vorbei war mit der Wirecard, zählte der Konzern weltweit über 6000 Mitarbeite­r, in Deutschlan­d waren es rund 1800. Insgesamt konnten global knapp 2000 Jobs erhalten werden. Darunter auch rund 500 am Stammsitz in Aschheim. Ende Januar teilte Jaffé mit, dass das Wirecard-Kerngeschä­ft von der spanischen Banco Santander Gruppe gekauft wurde und die Mitarbeite­r Teil der Getnet-Plattform von Santander würden. Vergangene Woche meldete Jaffé, dass mehrere Tochterges­ellschafte­n im Asien-Pazifikrau­m verkauft werden konnten. Wann die Insolvenz abgeschlos­sen sein wird? Ein Ende sei nicht absehbar, teilt ein Sprecher des Insolvenzv­erwalters auf Anfrage mit.

Gleiches gilt für die Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft München I wegen gewerbsmäß­igen Bandenbetr­uges, Untreue, unrichtige Darstellun­g und Marktmanip­ulation.

Und die Frage aller Fragen bleibt: Wo ist der in Geheimdien­stkreisen so gut vernetzte Marsalek? Leogrande, Überraschu­ng, weiß es nicht. Aber er gibt zu bedenken: „Einige Verantwort­liche versuchen Jan jetzt zum Sündenbock zu stilisiere­n. Wenn er aber auftaucht und redet, weiß man nicht, wie viele Leute da happy drüber wären.“Anderersei­ts, meint Leogrande: „Wenn 1,9 Milliarden Euro irgendwo rumliegen, ist das eine Menge Kohle. Da gibt es vielleicht Leute mit ganz anderen Interessen.“

Leogrande, der die Filmrechte an seinem Buch inzwischen verkauft hat und als Berater für Fintech-Unternehme­n arbeitet, ist überzeugt: „Es wird mit Sicherheit noch einige wilde Geschichte­n rund um Wirecard und seine Protagonis­ten geben.“Sie werden nicht unbedingt von Menschen handeln, die Nein zum Geld sagen.

Die Aufklärung wird noch sehr lange dauern

Wo ist der flüchtige Jan Marsalek?

 ?? Foto: Peter Kneffel, dpa ?? Das Logo am ehemaligen Stammsitz der Wirecard AG in Aschheim am Rand von München ist längst abgeschrau­bt. Nach Bekanntwer­den des Bilanzskan­dals musste Deutschlan­ds einstmals vielsprech­endstes Fintech‰ Unternehme­n Insolvenz anmelden.
Foto: Peter Kneffel, dpa Das Logo am ehemaligen Stammsitz der Wirecard AG in Aschheim am Rand von München ist längst abgeschrau­bt. Nach Bekanntwer­den des Bilanzskan­dals musste Deutschlan­ds einstmals vielsprech­endstes Fintech‰ Unternehme­n Insolvenz anmelden.
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Fotos: Ulrich Wagner In dieser feudalen Villa an der Prinzregen­tenstraße in München soll der flüchtige Ex‰ Wirecard‰Vorstand Jan Marsalek Gäste empfangen haben.
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Jörn Leogrande war lange Jahre bei Wirecard im Management.

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