Donauwoerther Zeitung

Nachhilfe digital: nur Namen statt Gesichter

Homeschool­ing und Wechselunt­erricht – seit mehr als einem Jahr haben Kinder und Jugendlich­e weniger Unterricht. Das reißt Wissenslüc­ken. Wie Nachhilfel­ehrer versuchen zu helfen und auf welche Probleme sie stoßen

- VON SUSANNE KLÖPFER

Augsburg/München/Marxheim Im Nachhilfeu­nterricht wirft Johanna Bichelmaie­r normalerwe­ise einen Blick über die Schulter ihrer Schüler, zeigt auf Fehler auf den Arbeitsblä­ttern und erklärt Aufgaben erneut. Doch nun ist alles anders. Die meisten Nachhilfes­chüler trifft die 21-Jährige online. Dafür sitzt die junge Frau, die im sechsten Semester Grundschul­lehramt an der Universitä­t in Augsburg studiert, vor ihrem Laptop in ihrem Zimmer in ihrer Wohngemein­schaft. In der Videokonfe­renz sind oft nur die Namen der Nachhilfes­chüler zu lesen, weil die meisten der Jugendlich­en ihre Kamera nicht einschalte­n möchten. Mehrere Kurse betreut Bichelmaie­r so jeden Dienstag und Freitag über das Nachhilfei­nstitut Schülerhil­fe in Augsburg-Hochfeld. In Deutsch, Englisch und Französisc­h hilft sie Schülern ab der 7. Klasse. Privat gibt Bichelmaie­r, die gebürtig aus Greifenber­g am Ammersee kommt, zusätzlich einem Buben und einem Mädchen in der vierten Klasse Nachhilfe. Dafür geht sie jedoch weiterhin persönlich zu den Familien.

Wenn Bichelmaie­r die digitale mit der persönlich­en Nachhilfe vergleicht, sagt sie: „Es ist anders. Über Zoom, eine Plattform für Videokonfe­renzen, ist es viel komplizier­ter, weil die meisten ihre Kamera nicht anschalten. Den Überblick zu haben, ob sie was machen, ist schwierig.“Wenn die Schüler sagten, dass alles passe, wisse sie nicht, ob das den Tatsachen entspreche. Normalerwe­ise gehe sie sonst während der Nachhilfe mal eben kurz rum und schaue, was alle machten. Alleine Arbeitsblä­tter während dem Online-Unterricht zu korrigiere­n, ist aufwendige­r: Schüler fotografie­ren die bearbeitet­en Aufgaben ab, schicken sie per Mail, Bichelmaie­r korrigiert sie digital und sendet sie zurück. Danach schaltet sie sich mit den Schülern einzeln erneut zusammen, teilt ihren Bildschirm und bespricht die Aufgaben. Dazu sagt sie: „Es ist erstens mehr Aufwand und zweitens schickt die Hälfte ihre Aufgaben mir sicher so nicht zu.“

Mittlerwei­le nutzt Bichelmaie­r für die Online-Nachhilfe sogenannte Breakout-Räume, eine separate Sitzung während eines digitalen Treffens, sodass sie mit jedem Kind alleine reden kann. „Alle schalten dann ihre Kamera an, weil wir eben nur zu zweit sind. Sie stören sich eher an den Gruppen, weil sie sich auch nicht wirklich alle kennen und sich deswegen nicht trauen“, sagt Bichelmaie­r.

Zwar bereitet die digitale Nachhilfe Bichelmaie­r mehr Arbeit, sie hält sie dennoch für notwendig: „Ohne würden noch mehr Kinder in der Schule abgehängt werden.“Man merke schon, wenn die Eltern nicht hinterher seien. Die Schüler schafften das nicht alleine. Wenn sie nichts machen würden, fielen sie komplett zurück und hätten keine Ahnung mehr. Bei einem ihrer Nachhilfes­chüler in der 4. Klassen sei es so, dass er einen Wochenplan von der Schule bekomme und Aufgaben abhake, obwohl er sie nicht erledigt habe. Angeblich, weil er Übungen nicht gefunden oder verstanden habe oder seine Mutter nicht fragen wollte. „Es ist einfach für Schüler in der Grundschul­e zu viel Eigenveran­twortung, die sie tragen müssen.“Nicht immer könnten Eltern helfen. Manche Themen hätten Schüler gar nicht mitbekomme­n.

Bei mindestens 20 Prozent der Schüler geht der Deutsche Lehrerverb­and davon aus, dass wegen der Corona-Krise ein stark erhöhter Förderbeda­rf entstanden ist. „Viele Kinder und Jugendlich­e werden zukünftig begleitend­e Förderange­bote etwa in Form zusätzlich­en Nachmittag­sunterrich­ts oder digitaler Nachhilfe brauchen“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands. Beim Großteil der Schülerinn­en und Schüler könnten die coronabedi­ngten Lerndefizi­te in den nächsten zwei Schuljahre­n wieder aufgeholt werden. Zwischen 300 und 600 Präsenz-Unterricht­sstunden seien je nach Bundesland, Schulart und Infektions­lage pro Schüler inzwischen weggefalle­n und nur teilweise durch Distanzunt­erricht ersetzt worden, sagt Meidinger. Er erwartet daher, dass eine Lernförder­ung über mehr als nur ein Schuljahr laufen müsse.

Das unterstütz­t auch Simone Fleischman­n, Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands. Die Ungerechti­gkeit der Bildung habe während der CoronaPand­emie zugenommen. „Viele sind verloren gegangen, weil sie am An

nicht die digitalen Endgeräte hatten, wir nicht die Kompetenze­n hatten, sie zu Hause nicht richtig lernen konnten“, sagt die 50-Jährige. Nachhilfe und Förderung sei bei Wissenslüc­ken immer das richtige Instrument.

Bedeutet dieser erhöhte Förderbeda­rf eine höhere Nachfrage nach Nachhilfe? „Eben nicht. Wir hätten uns auch gedacht, dass das so ist“, sagt Claudia Sussieck, Vorsitzend­e des Bundesverb­ands Nachhilfe- und Nachmittag­sschulen. Hausaufgab­enhilfe bezeichnet sie als eine Art „Spiegelbil­d des Schulsyste­ms“. Nachhilfe mache nie selber etwas, sondern die Lehrer bearbeitet­en mit den Schülern das, was in der Schule besprochen wurde. Wenn in der Schule wenig laufe, dann laufe auch in der Nachhilfe zwangsläuf­ig wenig. Als weiteren Grund sieht Sussieck: „Wenn die Schüler schon einen halben oder ganzen Vormittag wegen der Schule vor dem Bildschirm sitzen, dann womöglich wegen Nachhilfe am Nachmittag auch noch mal – da haben doch viele Eltern gestreikt. Viele finden es nicht richtig, dass ihr Kind den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzt.“

Der meiste Unterricht finde aktuell digital statt. Eine persönlich­e Nachhilfe Zuhause sei möglich, aber teurer, weil Schüler einzeln unterricht­et werden. Sussieck fügt hinzu: „Man kann sich vorstellen, wie es ist, wenn die französisc­he Aussprache oder das englisch „th“mit Maske geübt werden soll. Das sind ganz fürchterli­che Umstände.“

Die zwei größten Nachhilfei­nstitute in Deutschlan­d, Schülerhil­fe und Studienkre­is, haben ähnliche Beobachtun­gen angestellt „Die Leute legen Wert auf Nachhilfe in

Präsenz“, sagt Thomas Momotow von Studienkre­is. Er berichtet, dass die Kunden zwar dankbar für das digitale Angebot seien, doch die Leute, die sich aktuell meldeten, oft fragten, ob die Nachhilfe in Präsenz stattfinde. Manche kämen, andere hingegen warteten dann ab. Als Gründe nennt er hierfür die Monate des digitalen Lernens und die Angst, sich anzustecke­n.

„Sobald die Schulen wieder öffnen und die Präsenznac­hhilfe vor Ort möglich ist, steigt auch die Nachfrage nach Nachhilfe erneut“, teilt Denise Kirchberge­r von Studienkre­is mit. Die Zeit im Lockdown habe gezeigt, wie wichtig die individuel­le und emotionale Ansprache im Präsenzunt­erricht sei. Zudem habe das Institut den Eindruck gewonnen, dass die Schüler vom Distanzbez­iehungswei­se Digitalunt­erricht gesättigt seien und schlechter interagier­ten.

Im Gegensatz dazu stehen einige digitale Lern- und Nachhilfen­etzwerke, die während der CoronaPand­emie entstanden sind. Eine davon ist „Corona-School“, eine Plattform für Schüler, deren Eltern es aus zeitlichen, finanziell­en oder inhaltlich­en Gründen aktuell nicht möglich ist, ihren Kindern unter die Arme zu greifen.

Online bieten Studierend­e ehrenamtli­ch und kostenfrei ihre Hilfe an: Ihre Lernpartne­r können nach Hilfe bei den Hausaufgab­en fragen, sich Sachverhal­te erklären lassen oder Fragen stellen. Ein Konzept, das sich Studenten überlegt haben. Über die Internetse­ite (corona-school.de) können sich Schüler sowie Studierend­e anmelden. In einem digitalen Gespräch werden fachliche und pädagogisc­he Fähigkeite­n der Studiefang renden geprüft, bevor ein Algorithmu­s passende Partner findet, die sich später zuerst online kennenlern­en können. Über 10500 Lernpaare haben sich so gefunden.

Zu einem dieser Lernteams gehört Lea Lippert, die im 6. Semester Medizin an der Technische­n Universitä­t München studiert. Bereits über ein Jahr unterstütz­t die 21-Jährige

Digitale muss die persönlich­e Nachhilfe ersetzen

Studenten starten digitale Plattform „Corona School“

aus Marxheim im Landkreis Donau-Ries in Latein eine Sechstkläs­slerin, die in Baden-Württember­g lebt. „Wir haben jede Woche meist eine Stunde. Das ist größtentei­ls mittwochs, aber wenn sie früher Hilfe benötigt, dann machen wir das auch spontan früher“, sagt Lippert, die schon als Schülerin Nachhilfe gegeben hat.

Lippert sitzt dann vor ihrem Laptop, die Sechstkläs­slerin vor ihrem Tablet. Fragen und Aufgaben erhält Lippert zuvor per E-Mail. In einer Videokonfe­renz besprechen sie alles. Doch gelegentli­ch ist die Verbindung schlecht, der Ton bricht ab oder sie müssen die Kamera ausschalte­n, um technische Probleme zu überwinden. Lippert findet diese digitale Barriere irgendwie komisch. Ihr fehlt vereinzelt, dass sie auf Arbeitsblä­ttern Sachen anstreiche­n und erklären kann. Online habe sie zwar die Möglichkei­t, jemandem aus einem anderen Ort zu unterricht­en und alles gehe spontaner, aber: „Es wäre schöner, wenn man sich doch mal persönlich sehen würde. Durch diesen Bildschirm geht schon der menschlich­e Bezug verloren.“

 ?? Foto: Ulrich Perrey, picture alliance (Symbolbild) ?? Aufgaben am Laptop zu lösen, gehört für Schüler mittlerwei­le zum Alltag. Auch Nachhilfe‰Unterricht findet größtentei­ls online statt.
Foto: Ulrich Perrey, picture alliance (Symbolbild) Aufgaben am Laptop zu lösen, gehört für Schüler mittlerwei­le zum Alltag. Auch Nachhilfe‰Unterricht findet größtentei­ls online statt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany