Deutschlands Aufholjagd beim Impfen
Sechs Millionen Spritzen pro Woche: Bundesweit legen die Massenimpfungen immer mehr an Tempo zu. Doch warum scheinen viele andere Länder schon viel weiter zu sein? Und wo lauern die nächsten Probleme?
Augsburg Deutschland kann Autos, Fußball und Organisation. Eigentlich. Dann kamen die Abgasaffäre, die WM 2018 und Corona. In der Pandemie sorgt vor allem die Impfkampagne für Kritik. Denn, so ist für viele der Eindruck: Anderswo geht es schneller. Israel hat längst die Kneipen geöffnet, auch in Großbritannien drängen sich die Menschen wieder in den Pubs und in den USA gibt es Impfungen für Autofahrer im Drive-Through. Doch hinkt Deutschland beim Impftempo im internationalen Vergleich wirklich so hinterher?
In Israel haben bereits mehr als 60 Prozent der Menschen eine schützende Spritze erhalten, in Großbritannien etwa die Hälfte und auch in den USA liegt der Anteil mit mehr als 40 Prozent fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Und dann gibt es noch eine Reihe sehr kleiner Länder. Die Seychellen etwa, die einen Großteil ihrer 100000 Einwohner geimpft haben und damit inzwischen das Land mit der höchsten Impfquote weltweit sein dürften.
Nun ist man gewohnt, Deutschland an den Besten der Welt zu messen. Doch ist dieser Vergleich mit Israel, Großbritannien und den USA zielführend? Nicht wirklich, findet Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. „Weil das Länder sind, die früh deutlich mehr Impfstoff pro Person zur Verfügung hatten.“Die Geschwindigkeit der deutschen Impfkampagne sei von der Impfstoff-Knappheit bestimmt, nicht von der Logistik. Außerdem gelte: „Im internationalen Vergleich muss man auch die Größe eines Landes berücksichtigen.“Das gelte für Mikrostaaten, aber auch für das etwa neun Millionen Einwohner große Israel, das deutlich weniger Menschen immunisieren muss als die gemeinschaftlich agierende EU.
Doch es gibt auch Spezialfälle, etwa Chile. Der Grund für die hohe Impfquote dort – mehr als 40 Prozent der Menschen haben eine Erstimpfung erhalten – ist, dass das Land Sinovac-Impfdosen aus China gekauft hat. „Die haben sie auch sehr effizient verimpft, das muss man sagen“, erklärt Watzl. „Der Nachteil: Sinovac hat eine Effektivität, die bei nur etwa 50 Prozent liegt und nach der Erstimpfung sogar noch deutlich geringer ist. Deshalb zeigt die Impfkampagne noch keine große Wirkung auf die Inzidenzzahlen.“Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Chile steigt seit einiger
Zeit wieder, das Land ist zurück im Lockdown.
Auch EU-Mitglied Ungarn ist bereits sehr weit mit der nationalen Impfkampagne. „Ungarn hat zusätzlich zu den Bestellungen der EU noch das russische Sputnik V und einen chinesischen Impfstoff eingekauft“, erklärt Watzl. Ist ein Vergleich mit Ungarn sinnvoll? „Wir können nur den Impfstoff verimpfen, den wir haben“, betont der Immunologe. „Und ich wäre nicht dafür, in Deutschland ohne EU-Zulassung Sputnik V zu verimpfen. Deswegen hinkt für mich auch der Vergleich zu Ungarn ein bisschen.“
Innerhalb der EU befindet sich Deutschland im Mittelfeld. Wenn es darum geht, wie gut die Länder die Impfungen organisieren, sei das der sinnvollste Vergleich, erklärt Watzl. „In der EU haben wir ja grundsätzlich den Impfstoff nach den Bevölkerungszahlen verteilt. Alle Länder sollten pro Kopf in etwa die gleiche Menge bekommen haben. Wenn es hier Unterschiede gibt, liegt es eher nicht an den Impfdosen, sondern an der Logistik.“
Inzwischen steigt das Impftempo, denn Deutschland stehen nun viel höhere Liefermengen zur Verfügung als im vergangenen Monat. Deshalb sei auch die Umstellung auf die Impfungen beim Hausarzt nötig geworden, sagt Watzl. „Die Impfzentren hätten die Impfstoffmengen, die wir aktuell bekommen, kaum noch verimpfen können.“Im März hätte es demnach noch nichts geholfen, die Hausärzte einzubinden, weil es noch nicht genügend Impfdosen gab. Im Mai seien sechs Millionen Dosen pro Woche in Aussicht, im Juni sogar acht Millionen. „Was uns nicht passieren darf, ist, dass die Logistik irgendwann das Tempo bestimmt, nicht mehr die Lieferungen“, sagt Watzl. Deshalb müssten wie geplant bald auch Betriebsärzte und Fachärzte Impfungen verabreichen.
Die Impfkampagne ist längst nicht überall auf der Welt ins Rollen gekommen. Und wie ein Blick auf die Weltkarte zeigt, hat das Impftempo ganz offensichtlich auch mit der finanziellen Stärke eines Landes zu tun. Auffällig ist, dass beispielsweise in vielen Ländern Afrikas noch weniger als eine Impfung pro 100 Einwohner verabreicht wurde.
„Im Moment versorgen sich die ganzen Industriestaaten, die auch Impfstoff produzieren, erst mal selbst“, erläutert Watzl. „Das begründen sie mit der aktuellen Notlage im eigenen Land.“
Die USA, die sehr viel Produktionskapazität im eigenen Land haben, exportieren beispielsweise nahezu keinen Impfstoff. Das gilt auch für Großbritannien. Die EU hat ebenfalls verhältnismäßig hohe Produktionskapazitäten und exportiert nur sehr wenige Dosen. „Deshalb schaut der Rest der Welt gerade in die Röhre“, sagt Watzl. „Auch Indien, ebenfalls ein großer Impfstoffproduzent, ist jetzt dazu übergegangen, den Impfstoff erst mal nur der eigenen Bevölkerung zu geben, weil sie aktuell eine große Welle im eigenen Land haben.“
Ein Spezialfall ist Russland. Dort wurden pro Kopf deutlich weniger Impfungen verabreicht als in Deutschland – obwohl das Land den eigenen Impfstoff Sputnik V schon seit langem zugelassen hat und ihn exportiert. „Russland macht mit dem eigenen Impfstoff mehr Politik, als seine eigenen Leute dadurch zu schützen“, sagt Watzl. „Im eigenen Land haben sie außerdem ein Problem mit der Akzeptanz: Viele wollen den Impfstoff nicht haben.“So haben in Russland erst knapp acht Prozent eine Impfung erhalten.
Bei all diesen Immunisierungsraten bleibt die Frage: Welcher Wert ist das Ziel? Ab wann ist die Herdenimmunität erreicht? „Das ist schwer vorherzusagen“, räumt Watzl ein. In Israel, wo etwas mehr als 60 Prozent der Menschen geimpft sind, steige die Inzidenz aktuell trotz der Lockerungen nicht mehr. Zu den Geimpften komme noch eine Dunkelziffer von Menschen, die eine Immunität durch eine durchgemachte Infektion haben. „Das scheint für Israel zumindest zu reichen“, sagt Watzl.
Die momentan verfügbaren Impfstoffmengen in Deutschland seien noch nicht ausreichend, um die Inzidenz nach unten zu drücken. „Unsere einzige Chance in der dritten Welle ist es deshalb, möglichst viele vulnerable Gruppen zu impfen“, sagt Watzl. Nur so könne man Todesfälle und Krankenhausaufenthalte verhindern. Deshalb sehe er die Aufhebung der Impf-Priorisierung für AstraZeneca in einigen Bundesländern kritisch. „Weil ich sehe, dass andere Bundesländer es durchaus schaffen, den AstraZeneca-Impfstoff bei den über 60-Jährigen an den Mann und an die Frau zu bringen.“
Unterschiede liegen meist in der Logistik begründet