Champions Lieg
Seit Beginn der Pandemie hat das Dörfchen Lieg in Rheinland-Pfalz keinen einzigen Corona-Fall erlebt. Wie das geht? „Uffbasse“, sagen die Bewohner. Doch es steckt schon ein bisschen mehr dahinter
Lieg Als das alles so richtig losging, im Februar 2020, als die Wintertouristen in der Après-Ski-Bar Kitzloch in Ischgl Aperol kippten, Aerosole inhalierten und sich dann wieder in ganz Europa verteilten, kam das Virus auch nach Rheinland-Pfalz, in die Dörfer im nördlichen Hunsrück. Ein Sportverein hatte eine Busfahrt nach Österreich organisiert, ein bisschen Piste, ein bisschen Party, plötzlich Pandemie. Auch hier, auf dem beschaulichen Land. Der ganze Bus hatte sich infiziert. Während immer mehr Ortschaften CoronaFälle meldeten, blieb eine Gemeinde verschont: Lieg. So erzählen das die Dorfbewohner heute, 14 Monate und keine einzige Infektion später.
Seit mehr als einem Jahr dreht sich die Welt ein wenig träger. Masken sind Alltag, Restaurantbesuche nicht mehr. Als Gradmesser gelten Inzidenzkurven, keine Aktienkurse. Kontakte werden gezählt und Hände nicht mehr geschüttelt. 3,22 Millionen Menschen weltweit sind an einer neuartigen Lungenkrankheit gestorben. Und im kleinen Lieg, da steht noch immer die Null. Null Corona-Fälle, Inzidenz null, noch nicht einmal Verdachtsmomente gab es. Wie ist das möglich? Leben die Lieger unter der Glaskuppel? Hält AstraZeneca hier ein geheimes Impfdepot, an dem sich die Bürger bedienen?
Lieg hat weder Schutzhülle noch Vakzin-Versteck, sondern nur 400 Einwohner, eine Gaststätte, zwei Musikvereine, eine freiwillige Feuerwehr und ein paar Ferienwohnungen. Der Ort ist so überschaubar, dass von den acht Gemeinderatsmitgliedern drei „In der Kaltem“wohnen, zwei „In den Gärten“und zwei im „Birkenweg“, wo auch das Haus des Bürgermeisters steht.
Heinz Zilles singt als Tenor im örtlichen Männerchor. Alles, was er sagt, klingt schwer und tief, manchmal etwas pathetisch. Bürgermeister sein sei ein Fulltime-Job, sagt er. Meint er die Dorfgemeinschaft, spricht er manchmal vom „Team Lieg“. Zilles’ Status auf WhatsApp: „Nicht verzagen, aufstehen und weitermachen“.
Eigentlich ist Lieg ein Dorf, wie es wohl tausende gibt in Deutschland. Alte Gehöfte und Scheunen im Ortskern, ausladende Einfamilienhäuser auf günstigem Grund. Auf dem Sportplatz wildert der Löwenzahn, vor den Ersatzbänken stehen Photovoltaik-Anlagen. Die Fußballabteilung musste schon vor Jahren dichtmachen. Der Sportverein ist jetzt anders aufgestellt: mit Darts, Volleyball, Damenturnen und Männer-Wirbelsäulengymnastik. Das Mainzer Bildungsministerium wollte auch die Grundschule schließen. Die Lieger stemmten sich dagegen, „großes Trara“, sagt der Bürgermeister. Die Schule blieb. Zwei Klassen, 15 Schüler.
Lieg hat 2008 einmal einen Wettbewerb des SWR gewonnen und darf sich seither als „musikalischste Gemeinde in Rheinland-Pfalz“bezeichnen. Aber das war es dann auch schon. Bis jetzt.
Zilles weiß noch genau, wie der Hype begann. Eine Gratis-Lokalzeitung hatte einen Bericht über den
Corona-freien Ort veröffentlicht. „Ich war total erstaunt, weil ich die Liste der Kreisverwaltung bis dahin noch gar nicht gesichtet hatte“, sagt er. „Danach ging es richtig los.“Die Deutsche Welle kam, Spiegel und FAZ riefen an. Eine Reporterin des ARD-Morgenmagazins schlief eine
Nacht im Dorf.
Entfernt erinnert das alles an die
ORF-Fernsehserie „Braunschlag“, in der eine Marienerscheinung einem unscheinbaren Ort in Niederösterreich plötzlich nie dagewesene Aufmerksamkeit beschert, samt Medienrummel und Wallfahrern. Die himmlische Botschaft hatte der Bürgermeister bloß fingiert, um Geld in die leeren Gemeindekassen zu spülen. Dass Zilles dem RobertKoch-Institut (RKI) falsche Zahlen zuspielt, darf ausgeschlossen werden. Ein echtes Wunder also? Das Wunder von Lieg?
Pastor Hermann-Josef Floeck muss ein wenig lachen, wenn er das hört. „Das ist kein Wunder. Das ist höchstens Glück. Oder vielleicht der starke Wind hier“, scherzt er. Aber im Ernst: so wenige Einwohner, kein Dorfladen, die meisten Eltern, die ihre Kinder nicht mehr als Messdiener in die Kirche lassen, die vielen Alten, die nicht mehr zum Gottesdienst kommen – wo solle man sich denn noch anstecken? Da sitzt er also, der Pastor, auf der Bank vor der kleinen, prächtigen Dorfkirche, klagt über halb leere Messen und glaubt nicht an Übernatürliches.
Nächster Erklärungsversuch, diesmal medizinisch. Theodor Kastor fährt gerade Hausbesuche in Lieg. Ein Landarzt, wie man sich ihn vorstellt: Das weiße Hemd spannt etwas, schwarzer Mercedes G-Klasse, moselfränkischer Singsang. Sind Lieger Corona-resistent, Herr Kastor? „Die Lieger sind genauso gesund oder krank wie alle anderen auch.“
Ein Teil der Wahrheit ist ja auch, dass Lieg nicht die einzige Gemeinde in Deutschland ist, um die das Virus bisher einen Bogen gemacht hat. Eine genaue Auflistung ist schwer möglich. Das RKI erfasst Daten nur auf Landkreisebene, genauso wie das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
Doch der Landkreis CochemZell, in dem Lieg liegt, steht allgemein gut da. „Wir hatten im März eine kurze Phase mit Inzidenz null“, berichtet Ernst Hilger, der Leiter des örtlichen Gesundheitsamts. Momentan stagniert der Wert bei etwa 50. Landesweit befinden sich Kommunen in der sogenannten Bundesnotbremse. In Cochem-Zell haben sie gerade mal die Handbremse angezogen. Es gab hier noch nie eine
Ausgangssperre. Und es gibt sogar einen zweiten Zero-Covid-Ort im Kreis: Brieden in der Eiffel. Pastor Floeck berichtet, dass er in seinen zehn Kirchengemeinden noch keinen einzigen Corona-Toten beerdigen musste.
Wollte man von Lieg aus mit dem Zug nach Berlin fahren, müsste man zunächst den Bus nach Treis-Karden nehmen, der nächste Ort an der Mosel. Von dort mit dem RegionalExpress nach Koblenz, dann nach Frankfurt am Main, dann in die Hauptstadt. Doch nicht nur physisch wirken die grauen Betonklötze des Regierungsviertels weit weg für Bürgermeister Zilles. „Während in der Politik lange debattiert wird, was man tun sollte, setzen wir auf Eigeninitiative“, sagt er.
Die Elternschaft und die Vereine haben Spenden für zwei Raumluftfilter in der Grundschule gesammelt. Die Dorfjugend kauft für die Ur-Lieger ein, „Jung für Alt“nennt sich der Service.
In der Turnhalle betreibt die freiwillige Feuerwehr seit zwei Wochen jeden Samstag ein Testzentrum. Zuletzt kamen 100 Lieger, ein Viertel des Dorfes. Zieht man Kinder, bereits Geimpfte und Leute, die bei ihrer Arbeit getestet werden, ab, kommt man auf eine beachtliche Testbereitschaft.
„Wenn man ein bisschen von Erfolg sprechen will, liegt es vielleicht auch an der intakten homogenen Dorfgemeinschaft. Hier muss man sich einfach wohlfühlen“, sagt der Bürgermeister. Brigitte Rössel sieht, neben dem Zufall natürlich, noch einen anderen Grund. Die 66-Jährige ist nach dem Studium in Köln sofort zurück nach Lieg gezogen. Wenn jemand aus dem Nachbardorf kommt, könne sie das am Dialekt hören, behauptet sie. Sie sagt: „Die Leute auf dem Dorf sind vielleicht ein bisschen vorsichtiger.“Man müsse halt „uffbasse“, sagt ein Lieger, der gerade in seinem Garten an neuen Holzschubläden bastelt.
Kurzer Check bei der zuständigen Ordnungsbehörde in Cochem: In Lieg wurde bisher kein einziger Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz registriert. „Das ist sicher kein Ort, wo wir viele Meldungen über Regelverstöße haben. Aber das ist im ganzen Kreis so“, sagt ein Beamter der Polizeiinspektion in der Kreisstadt.
Vielleicht braucht Lieg ja auch gar keine Polizei. Wofür gibt es Nachbarn auf dem Dorf? Vielleicht hat sich Bürgermeister Zilles zu Beginn des Medienauflaufs aber auch einfach ein wenig suboptimal ausgedrückt, als er sagte, in seinem Dorf falle schon auf, wer beim Nachbarn zu Besuch sei und woher die Autokennzeichen so kämen.
„Es ist nicht so, dass die Leute einander überwachen, ob sie eine Corona-Party machen“, sagt Pastor Floeck. Zilles selbst will etwas klarstellen: „Hier darf jeder leben, wie er will. Es gibt keine Kontrollen. Aber es ist eben nicht die absolute Anonymität wie in der Großstadt. Wer hier lebt, weiß, dass auch mal der Nachbar vorbeischaut. Und dann gehört es dazu, dass man mal einen Satz mehr redet als nur ,Guten Tag‘, ,Wie geht’s?‘ und ,Tschüss‘.“
Die Lieger Erfolgsformel ist für ihn eigentlich ganz einfach: „Das ist Glück, das ist Zufall, das ist ein guter Schutzengel, der seine Hand über Lieg hält und sagt: Lass dieses Dorf in Ruhe. Und die Menschen, weil sie achtgeben, aber auch optimistisch sind.“
Hinter der Turnhalle gibt es einen öffentlichen Bücherschrank. Auf dem obersten Regalbrett liegt düsterer Stoff: ein John-GrishamKrimi, ein Thriller namens „Sanft will ich dich töten“, ein Heimatbuch aus der Eiffel mit dem Titel „Henker, Schinder und Ganoven“, eine Biografie von Dieter Bohlen. Dazwischen „Die Liebenden von San Marco“, dicker Schmöker, Venedig des 16. Jahrhunderts, auch so eine Seuchenzeit. Die junge Cintia, schwer an der Pest erkrankt, überlebt und stolpert in eine komplizierte Romanze.
Das Leben geht ja weiter. Auch in Lieg. Keiner verriegelt hier die Haustür und lebt als Einsiedler hinter Fachwerk und Schieferplatten. Dorfbewohner treffen sich am Gartenzaun, mit Abstand. Sie graben ihre Beete um, verputzen ihre Mauern und mähen ihren Rasen. Sie drehen sich um, wenn die Hunde kläffen, weil ein fremder Reporter durchs Dorf spaziert. Sie fahren zum Einkaufen nach Treis oder Kastellaun.
90 Prozent pendeln eigentlich. Doch viele sind jetzt im Homeoffice. Gute Internetverbindung, lobt Zilles. Nach dem letzten Testtag, am Samstag, machte der Dorfwirt für eine Stunde den Biergarten auf. Das Tübinger Modell in der Miniaturversion. „Mein Mann sagte mir, das halbe Dorf war da“, erzählt Brigitte Rössel begeistert.
Die Apothekerin ist schon um die ganze Welt gereist. Viermal Bali, Rundreise durch Alaska, Abenteuer auf der Osterinsel. 2020 blieb sie Pandemie-gezwungen in Europa, mietete sich mit ihrem Mann ein Haus an der Atlantikküste Frankreichs. Dort soll es auch in diesem August wieder hingehen.
Wenn das alles endlich vorbei ist, irgendwann, wenn die meisten Leute geimpft sind und Ischgl sich wieder auf die nächste Skisaison vorbereitet, will Heinz Zilles ein Dorffest feiern. Die letzte Fete ist schon anderthalb Jahre her, Erntedank 2019. „Man muss den Menschen eine Perspektive bieten. Das steigert ihre Motivation“, sagt er.
Zilles malt sich das schon in Gedanken aus: Alle Lieger sollen in die Hunsrück-Halle kommen, sie sollen sich umarmen, sie sollen einen Sieg feiern: Team Lieg 1, Team Corona 0. Keiner weiß, wann Abpfiff ist. Heinz Zilles sagt: „Ich hoffe im Herbst.“
Das alles erinnert ein wenig an eine Fernsehserie
Für den Bürgermeister ist die Erfolgsformel ganz einfach