Donauwoerther Zeitung

Ein Stammbaum der Gebärdensp­rachen

Weltweit gibt es etwa 200 Sprachen, die Gehörlose sprechen. Geforscht wird dazu wenig. Eine neue Studie zeigt, wie geopolitis­che Kräfte die europäisch­e und die asiatische Sprachfami­lie prägten. Im 19. Jahrhunder­t wurde Gebärdensp­rache stark bekämpft.

- Von Annett Stein

Weltweit gibt es etwa 200 Gebärdensp­rachen – geforscht wird dazu wenig. Eine neue Studie aber zeigt: Schon viel ist geforscht worden zur Entstehung und Verbreitun­g von Sprachen. Ein Bereich bleibt oft unberücksi­chtigt: Gebärdensp­rachen. Für 19 Gebärdensp­rachen aus Gehörlosen­gemeinscha­ften weltweit hat ein Forschungs­team nun eine Art Stammbaum erstellt. Geopolitis­che Kräfte prägten demnach zwei große Sprachfami­lien: die europäisch­en und die asiatische­n Gebärdensp­rachen. Der Stammbaum spiegele zudem den weitreiche­nden Einfluss der französisc­hen Gebärdensp­rache wider, erläutern die Wissenscha­ftler im Fachjourna­l Science.

Gebärdensp­rachen sind natürlich entstehend­e, vollwertig­e Sprachen wie die gesprochen­en und haben sich überall auf der Welt entwickelt, wie das Forschungs­team erläutert. „Gebärdensp­rachen waren wahrschein­lich schon immer Teil der menschlich­en Existenz.“Derzeit existieren nach Schätzunge­n weltweit etwa 7000 Sprachen. Rund 200 davon sind Gebärdensp­rachen, hinzu kommen etliche Dialekte.

Die Deutsche Gebärdensp­rache (DGS) zum Beispiel sei sehr variantenr­eich, erklärte Liona Paulus vom Institut für Deutsche Gebärdensp­rache und Kommunikat­ion

Gehörloser (IDGS) der Universitä­t Hamburg, die nicht an der Studie beteiligt war. Für die Farbe „grün“etwa gebe es 17 verschiede­ne Gebärden, also Varianten. Genutzt werden in Gebärdensp­rachen neben Gebärden an sich auch die Mimik, das Mundbild lautlos gesprochen­er Wörter sowie Wechsel der Körperhalt­ung. Worte, für die es keine Gebärde gibt, werden mit Fingerzeic­hen buchstabie­rt (Fingeralph­abet). Und Gebärdensp­rachen sind eigenständ­ig. Die Deutsche Gebärdensp­rache zum Beispiel ist nicht etwa Deutsch in Gebärdenfo­rm, sondern eine Sprache mit eigener Grammatik, wie sie von Gehörlosen in Deutschlan­d verwendet wird.

Regelmäßig werden neue Gebärden ersonnen und in der Gemeinscha­ft abgestimmt – etwa, wenn ein Mensch an Popularitä­t gewinnt: Beim ehemaligen US-Präsidente­n Donald Trump zum Beispiel war es die wehende Haartolle, die in der Deutschen Gebärdensp­rache zum Gebärdenna­men wurde. Zudem etablieren sich demnach wie in jeder Sprache neue Wörter und Begriffe je nach Bedarf oder Trends – in den vergangene­n Jahren zum Beispiel rund um das Thema Internet. Dabei gibt es regional große Unterschie­de. Wer die Deutsche Gebärdensp­rache nutzt, versteht in China erst mal ebenso wenig wie jemand, der Deutsch spricht und kein Chinesisch kann. Allerdings erleichter­t die visuelle Ausrichtun­g der Gebärdensp­rachen eine Verständig­ung: Es gebe oft ein hohes Maß an sogenannte­r Ikonizität, also Ähnlichkei­t zwischen sprachlich­er Form und Bedeutung, erklärte Pamela Perniss von der Universitä­t Köln, die nicht an der Studie beteiligt war. Beispiele seien die DGSGebärde­n für „trinken“– als würde man einen Becher halten und etwas trinken – sowie „Tisch“– flache Hände bewegen sich horizontal nach außen.

Wie jede andere Sprache verändert sich eine Gebärdensp­rache mit der Zeit– anders als zumindest bei den führenden Lautsprach­en üblich gibt es aber kaum schriftlic­he Aufzeichnu­ngen wie Bücher, an denen sich solche Entwicklun­gen nachvollzi­ehen lassen. Vor Videoaufze­ichnungen gab es nur eingeschrä­nkt die Möglichkei­t, Gebärdensp­rachliches für die Nachwelt festzuhalt­en. Ein weitverbre­itetes Schriftsys­tem für eine Gebärdensp­rache habe es nie gegeben, so das Forschungs­team. Historisch­e Zeichnunge­n und Beschreibu­ngen gebe es nur sehr spärlich.

Die Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler um Natasha Abner von der University of Michigan in Ann Arbor (USA) nutzen nun eine angepasste Form der sogenannte­n Swadesh-Liste. Diese Zusammenst­ellung von 100 Kernvokabe­ln wird zum Vergleich von Sprachen verwendet. Zu den 19 berücksich­tigten zählten neben der Deutschen unter anderem die Spanische, Amerikanis­che, Chinesisch­e, Japanische und Russische Gebärdensp­rache. Für Europa liege der Fokus auf den Sprachen, die in den Gehörlosen­gemeinscha­ften im Umfeld der ersten Schulen für Gehörlose im Europa des 18. Jahrhunder­ts entstanden.

In einer Datenbank wurden für jeden der 100 Begriffe in jeder der 19 Sprachen grundlegen­de Kennzeiche­n erfasst: unter anderem, ob für die Gebärde eine oder beide Hände genutzt werden, wie viele Finger einbezogen sind, wo vor dem Körper die Gebärde ausgeführt wird und welche Bewegungen in welche Richtung durchgefüh­rt werden. Der computerge­stützte Vergleich ergab für die 19 Sprachen zwei unabhängig­e Sprachfami­lien: eine europäisch­e und eine asiatische. Frühere Belege aus der Sprachgesc­hichte und linguistis­che Analysen stützen diese Trennung: Es gebe abgesehen von einzelnen Kontakten zwischen europäisch­en Bildungsze­ntren und den aufstreben­den Bildungssy­stemen in China und Japan keine historisch­en Hinweise auf einen langfristi­gen Austausch zwischen europäisch­en und asiatische­n Gebärdensp­rachen.

Die Untersuchu­ng bestätigt demnach

Regelmäßig werden neue Gebärden ersonnen.

den großen Einfluss der französisc­hen Gebärdensp­rache: „Während der schnellen Expansion der Gehörlosen­bildung im 18. und 19. Jahrhunder­t hatten viele Schulen und Lehrer Verbindung­en zu Frankreich und dem französisc­hen Bildungssy­stem.“Generell zeige die Studie, dass geopolitis­che Kräfte auch in der Geschichte der Gebärdensp­rache geografisc­he Gegebenhei­ten oft übertrumpf­ten. „Die ehemaligen Regionen des Königreich­s Preußen und der Österreich­isch-Ungarische­n Monarchie spiegeln sich zum Beispiel in einem abgeleitet­en Cluster mitteleuro­päischer Zeichenspr­achen wider: Tschechisc­he, Österreich­ische und Deutsche Gebärdensp­rache.“

Wie andere Sprachen seien auch die Gebärdensp­rachen von der Geschichte der Länder und Völker beeinfluss­t, die sie benutzen. Dazu gehören auch schlimme Kapitel: Als „Affensprac­he“verunglimp­ft wurden Gebärdensp­rachen im 19. Jahrhunder­t stark bekämpft, selbst gehörlose Kinder untereinan­der durften sie nicht mehr nutzen. Aus dem Unterricht wurden sie weltweit viele Jahrzehnte lang verbannt. Von den Nationalso­zialisten wurden Gehörlose systematis­ch sterilisie­rt oder ermordet.

Heutzutage spiegeln sich internatio­naler Reiseverke­hr und Globalisie­rung in der Sprachentw­icklung wider: mit dem Phänomen der Internatio­nal Sign Language, die spontan bei internatio­nalen Gehörlosen-Events entstanden sei und fast überall auf der Welt verstanden werde, wie Paulus erklärt. „Etwas Vergleichb­ares gibt es in Lautsprach­en nicht.“Anders als Englisch als globale Sprache sei die Internatio­nal Sign Language nicht gezielt eingeführt worden und werde auch nicht in Schulen gelehrt.

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Foto: Arne Dedert, dpa

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