Ewald Arenz: Alte Sorten (38)
Es war ein Tag, an dem man nicht viel tun konnte. Die Felder waren aufgeweicht. Der Wald war nass. An solchen Tagen hatte sie früher manchmal von morgens bis abends gelesen.
Sie nahm die Holzstiege auf der anderen Seite des Kellers, und für einen Augenblick verweilte sie in der Scheune. Sie sah, dass ihr Fahrrad da war. Sally hatte das andere genommen. Sie blieb im Tor stehen und sah in den Regen. Vielleicht sollte sie es wie das Mädchen
machen. Vielleicht konnte man einen halben Tag lang so tun, als ginge einen das eigene Leben nichts an.
Entschlossen lief sie mit langen Schritten über den Hof, um sich eine Jacke zu holen, und wich dabei keiner Pfütze aus. Es war schön, das Wasser spritzen zu spüren.
Sally triefte. Sie hatte den Pullover in eine Plastiktüte gewickelt und auf den Gepäckständer geklemmt, aber alles andere war klitschnass. Sie stand in den Pedalen und trat langsam, aber gleichmäßig. Es biss in den Waden, aber das tat es schon seit einer Viertelstunde, und es war gut, nicht nachzugeben. Es ging immer mehr, als man dachte, immer. Der Berg zog sich, aber es ging kein Wind, und der Regen kühlte sie ab. Es war gut, allein draußen zu sein. Das Fahrrad taugte. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, und es fuhr richtig gut. Sie hatte den schmalen Wirtschaftsweg genommen, der zwischen den Weinbergen hoch führte. Er war steiler als die Landstraße. Erst nach einer Zeit lang hatte sie erkannt, dass es der Weg war, auf dem sie Liss das erste Mal getroffen hatte. Wiegetritt. Nicht nachgeben. Immer noch gleichmäßig, aber auch immer heftiger atmend, warf sie den Lenker hin und her, zog bei jedem Tritt den Lenker mit aller Kraft nach oben, versuchte, ihr ganzes Gewicht und mehr auf die Pedale zu bekommen. Sie musste an die Kartoffeln denken, die sie beim ersten Mal nicht weiter aufgelesen hatte. Als sie einfach hingeschmissen hatte. Es war ein Gedanke, der ihr heiß durch den Magen schoss. Nicht nachgeben. Schalten. Wiegetritt.
Die tropfenden Rebstöcke zogen sehr langsam an ihr vorbei. Sie sah sie aus den Augenwinkeln. Unter ihr der Weg. Vier Kurbelumdrehungen für jede Betonplatte. Acht Tritte. Die Fuge zwischen ihnen spürte man immer in den Rädern. Tack, tack. Acht Tritte. Tack, tack.
„Fuck!“, schrie sie atemlos. „Fuck!“Aber es war kein wütendes Fluchen, sondern einfach ein Schrei der Anstrengung, zuversichtlich, sich selber antreibend; oder doch wütend, aber voller guter Wut, solcher, die einen starkmacht.
Sie keuchte und fuhr jetzt im kleinsten Gang, aber sie gab nicht auf. Elf Tritte jetzt für jede Betonplatte. Tack. Tack. Es war nicht mehr weit, die Kuppe war vor ihr. Tack. Tack.
Als sie oben war, fuhr sie noch drei, vier Meter weiter, bevor sie völlig außer Atem anhielt, für einen Augenblick erschöpft den Kopf auf die Arme legte und spürte, wie das Blut zurück in die Waden floss, als sie sich entkrampften. Dann richtete sie sich auf, dehnte den Rücken und sah nach unten. Der Fluss lag grau und schwer im Tal. Über ihm hing trotz des Regens ein feiner Dunst. Sie leckte sich den Regen von der Oberlippe. Ihr Atem wurde ruhiger. Die Windräder standen bewegungslos. War das heute der erste Herbsttag? Es war seltsam, dass sie nach diesen letzten Stunden, die nur Bewegung gewesen waren, Anstrengung bis zur Grenze der Erschöpfung, dass sie nach diesem atemlosen Vormittag auf einmal so still stehen wollte. Keine Bewegung.
Doch. Es war, als könnte sie spüren, wie die Erde sie forttrug. Sie und den Weinberg und den Fluss und die Windräder und die ganze graubunte Regenlandschaft. Sie breitete ein wenig die Arme aus, das Fahrrad noch immer zwischen den Beinen, ließ den Regen auf sich fallen und die Tropfen ihr Gesicht hinunterlaufen. Warum machten sie so was in den Kliniken nicht? In den Kliniken hatten sie das Regenrauschen auf CDs, und man saß auf Stühlen im Kreis und sollte die Augen schließen und sich vorstellen, man stünde im Regen. Die waren krank. Nicht sie.
Allmählich begann sie abzukühlen. Noch war der Regen angenehm, aber sie musste sich wieder bewegen. Eine Minute noch oder zwei. Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: dass Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in so einer perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte. Vielleicht fühlten sich Seiltänzer so, wenn sie hoch oben waren, in dem einen Moment, in dem eine gerade Linie genau durch die Mitte des Körpers geht und genau durch die Seele des Seils und bis zum Boden und dann bis zum innersten Kern der Erde; in dem einen bewegungslosen Moment der Mitte. Ich gehe nicht noch einmal in eine Klinik! Ich bin nicht magersüchtig! Ich bin nicht krank!
Sally schrie. Sie wollte eigentlich nicht schreien, weil sie wusste, dass es alles nur schlimmer machte, aber sie schrie trotzdem. Als ob sie besser verstanden würde, wenn sie laut wurde. Sie waren im Wohnzimmer.