Donauwoerther Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (40)

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Eigentlich wollte sie noch nicht zurück, aber ihr wurde allmählich kalt, und sie war auch schon seit über dreißig Kilometern unterwegs.

Auf der Landstraße machte es keinen Spaß, in diesem Regen zu fahren. In den Spurrinnen sammelte sich das Wasser und bremste die Räder, wenn sie weiter zur Straßenmit­te fuhr, zogen die Autos so nah an ihr vorbei, dass sie den Sog spüren konnte und außerdem jedes Mal von einer schmutzige­n Sprühwolke überzogen wurde, die von den Rädern aufgewirbe­lt wurde. Es sollte ihr nichts ausmachen, denn sie war ja sowieso nass, aber es ärgerte sie trotzdem, wie rücksichts­los die alle sie überholten.

„Arschloch!“, schrie sie einem schweren Mercedes hinterher, der sie so knapp überholt hatte, dass sie im Luftzug schwankte und den Lenker festhalten musste. Sie riss den Mittelfing­er hoch, obwohl der Fahrer sie durch die Regengisch­t bestimmt nicht mehr sehen konnte. Auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te bremste ein VW-Bus ab.

„Was?“, schrie Sally dem Fahrer wütend entgegen und zeigte auch ihm den Finger. Das Fenster wurde herunterge­kurbelt, und erst mit einer Sekunde Verzögerun­g erkannte Sally Liss. Sie lächelte ein bisschen.

„Willst du mit?“

„Ist das dein Auto?“, fragte Sally, nachdem sie das Fahrrad verstaut hatten. Die mittlere Sitzbank war ausgebaut, und deshalb war eine Menge Platz. Sally hatte ihr T-Shirt ausgezogen und mit dem trockenen Pullover aus der Plastiktüt­e getauscht. Die nasse Hose hatte sie anbehalten. Die würde schon von allein trocknen.

„Der Bus gehört Gerhard. Der aus dem großen Haus mit dem Schieferda­ch hinter der Kirche. Er braucht manchmal einen Traktor, dann kann er meinen haben. Und ich kann dafür sein Auto nehmen. Er hat sowieso zwei.“

Irgendwie hatte Sally immer gedacht, Liss hätte überhaupt keine Freunde. Seit sie bei Liss wohnte, hatte sie noch keinen Besuch gesehen.

„Aha“, sagte sie.

Liss warf ihr einen kurzen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. „Was?“, fragte Sally laut. „Was?“„Du denkst, ich mag Leute nicht besonders.“

Es war keine Frage. Es war eine Feststellu­ng. Sally fühlte sich durchschau­t. Sie mochte das Gefühl nicht, vor allem weil die anderen immer gleich dachten, sie wüssten alles über sie, wenn sie mal was richtig benannt hatten.

„Das ist nicht so schwer zu erraten, oder?“, sagte sie kurz. „Wohin fährst du eigentlich?“

Liss antwortete nicht gleich. Sie fuhr trotz des Regens schnell und überhaupt nicht wie eine, die sich nur ab und zu ein Auto lieh. Schließlic­h bogen sie auf die Straße ein, die hinunter zum Fluss führte. Sally sah einen Lastkahn, der einsam durch das Grau zog. Es war ein Bild, das irgendwie zu ihr sprach. Sie wusste nicht genau, was es sagte, aber es sprach zu ihr. In der Stadt, in der sie wohnte, gab es keinen so großen Fluss. In der Stadt, in der sie wohnte, konnte sich nichts bewegen, was groß war. Als sie im Tal ankamen, bog Liss wieder ab, und nun fuhren sie parallel zum Wasser stromaufwä­rts. Rechts von ihnen stiegen die Weinberge mal steiler, mal sanfter nach oben. Sally ließ das Fenster auf ihrer Seite nach unten. Der Fahrtwind fauchte ihr den Geruch

von Regen und Grün ins Gesicht.

„Zu einem Karner“, sagte Liss laut. Sally verstand nicht. „Was?“

„Wir fahren zu einem Karner.“Sally schloss das Fenster. „O danke. Das ist hilfreich“, sagte sie spitz. „Ich habe keine Ahnung, was ein Karner ist!“

Liss verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln.

„Ich könnte mir denken, dass er dir gefällt. Wir sind bald da.“

Sally antwortete nicht, sondern ließ das Fenster wieder hinunter, beugte sich hinaus und hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind. Das hatte sie immer gemocht. Wie es der Fahrtwind schwer machte zu atmen. Wie Luft plötzlich Gewicht bekam und einem eine unsichtbar­e, weichfeste Faust in den Mund und in die Lungen drückte, wenn man sich nicht wegdrehte.

Sie erreichten die Ausläufer eines Städtchens, Tankstelle­n, Baumarkt, Supermarkt, zum Kotzen hässlich. Aber Liss bog erneut ab, und sie fuhren steil hügelan und plötzlich durch ein Tor und über Kopfsteinp­flaster und durch immer schmalere Gassen immer weiter nach oben. Auf einem kleinen Platz hielten sie an. Liss stieg aus, ohne auf Sally zu warten. Sie drehte sich nicht um und ließ den Bus unverschlo­ssen. Es war fast, als hätte sie es auf einmal eilig. Sally glitt von ihrem Sitz, warf die Beifahrert­ür zu und folgte ihr. Das Pflaster glänzte matt und grau. Von den Häusern um den Platz war keines gerade. Eines hatte sich über die Jahrhunder­te so gesenkt, dass der Querbalken des Fachwerks auf der rechten Seite des Hauses fast einen halben Meter tiefer lag als auf der linken. Wahrschein­lich hatte man deshalb immer wieder die Fenster tauschen müssen – es sah aus, als schrumpfte ihre Reihe von links nach rechts. Sally musste grinsen. Wie lebte man in so einem Haus, in dem die Decke an einem Ende einen halben Meter tiefer hing als am anderen?

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