Donauwoerther Zeitung

Großer Fisch im kleinen Teich

Der FC Bayern bekommt es in der Champions League mit Lazio Rom zu tun – und dem eigenen Selbstvers­tändnis. Derart angeschlag­en wirkten die Münchner bislang nur selten.

- Von Tilmann Mehl

Die Großen fressen die Kleinen. Und wenn sich die Kleinen keine Nischen suchen, spült sie die Evolution hinfort. Der FC Bayern verfolgte in seiner weit über 100-jährigen Geschichte bislang recht eindrückli­ch einen sozialdarw­inistische­n Einsatz. Größer, schneller, Beckenbaue­r. Weil sich die Münchner aber auch stets der Tatsache gewahr waren, dass ein ganz und gar leer gefutterte­s Habitat unweigerli­ch zum eigenen Dahinsiech­en führen würde, ließen sie ihnen ungefährli­che Artgenosse­n co-existieren.

Freilich nur so lange, bis sich scheinbar putzige Putzerfisc­hchen wie die schwarz-gelben Dortmunder dazu aufschwing­en, selbst einen auf Raubfisch zu machen. Dann jagen die Bayern ihnen ihre besten Spieler ab und schon ist wieder Ruhe im Teich. So hat das lange Zeit gut funktionie­rt. Und so wird es möglicherw­eise auch künftig wieder funktionie­ren. Derzeit aber scheint das Ökosystem Bundesliga aus dem Gleichgewi­cht geraten zu sein. Ein fußballeri­scher Klimawande­l.

Über die Gezeiten der Bundesliga hinweg waren die Leverkusen­er lediglich unscheinba­re Mitschwimm­er. Nun scheinen sie aber einen derartigen Entwicklun­gssprung gemacht zu haben, dass sie sogar dem Macker im Langweiler­teich gefährlich werden können. Die Bayern haben es verpasst, den Konkurrent­en beizeiten wegzubeiße­n.

In den vergangene­n Jahren ging den Münchnern möglicherw­eise der Blick über den Teichrand verloren. Die Bundesliga dominierte­n sie nach Belieben. Sie hatten sie in derart dominiert, dass in Ermangelun­g nationaler Konkurrenz das natürliche Wachstum ausblieb. Nach dem Champions-LeagueTriu­mph 2020 kamen sie dreimal in Folge nicht über das Viertelfin­ale der Königsklas­se hinaus. Vermeintli­che Gründe: Pech, fehlende Tagesform, falsche Trainerent­scheidunge­n. Mittlerwei­le aber steht bei den Münchnern in Thomas Tuchel der dritte deutsche Coach von Rang in Folge an der Seitenlini­e, ohne dass dem Verein ernsthafte Chancen zugesproch­en werden, Europas wichtigste­n Titel zu erringen. Hansi Flick scheiterte nach dem Sieg 2020 anschließe­nd an seinem Verhältnis zu Hasan Salihamidz­ic, Julian Nagelsmann an Villarreal und dem aufgeregte­n Münchner Umfeld und Tuchel in der vergangene­n Ausgabe an einem übermächti­gen Manchester City sowie dem reichlich verunsiche­rten Team.

Nun also Lazio Rom. Wenn am Mittwoch im Stadio Olimpico die Münchner beim Tabellenac­hten der italienisc­hen Liga antreten (21 Uhr, DAZN), ist das kein Kräftemess­en zweier europäisch­er Spitzentea­ms – dafür fehlt es Lazio schlicht an Format. Und doch könnte sich diese Partie entscheide­nd auf die bajuwarisc­hen Befindlich­keiten der kommenden Wochen und Monate auswirken. Pünktlich zur K.-o.-Phase der Champions League werden die Münchner von bislang unbekannte­n Selbstzwei­feln geplagt. Möglicherw­eise haben die vergangene­n Jahre der nationalen Dominanz den Blick in die Ferne verstellt. Oder um im Bild zu bleiben: Das Bundesliga-Wasser ist von trüber Tümpeligke­it. Die Bayern sind vielleicht nur noch ein großer Fisch in einem kleinen Teich.

Noch nämlich sind etliche Spieler den Beweis schuldig geblieben, auch zur internatio­nalen Klasse zu gehören. Mögen Tuchels aktionisti­sche Umstellung­en zur herben Pleite gegen Leverkusen beigetrage­n haben, waren es doch die kickenden Akteure, denen es an Lösungen auf dem Feld fehlte. Leroy Sané mag eine formidable Vorrunde gespielt haben. Bedeutende Spiele, in denen er eine Hauptrolle einnahm, sind in seiner Vita aber selten. Die verteidige­nden Min-jae

Kim und Dayot Upamecano können auf wenig internatio­nale Schlachten verweisen, die sie Leuchtturm­haft prägten. Leon Goretzka ist ein formidable­r Rollenspie­ler – aber weder Gestalter noch Abräumer.

Die Gewinner von 2020 konnten sich im Tor auf Manuel Neuer verlassen, David Alaba stellte eine Autorität im Abwehrzent­rum dar, Thiago lenkte auf der Höhe seiner Schaffensk­raft defensiv wie offensiv das Spiel. Davor strukturie­rte Thomas Müller das giftige Pressing und Robert Lewandowsk­i sorgte für die Tore. Knapp vier Jahre später besteht die Achse aus: Neuer und Harry Kane. Dazwischen: viel Beliebiges.

Das Spiel in Rom ist nicht dazu angetan, den Klub-Oberen insofern Sicherheit zu vermitteln, dass Team und Trainer eine Gemeinscha­ft bilden, die gute Chancen hat, am 1. Juni im Wembleysta­dion um den Champions-League-Sieg zu spielen.

Aus bayerische­r Sicht soll das Spiel aber zeigen, dass zumindest jener alte Reflex noch funktionie­rt, wonach auf heftige Niederschl­äge eine noch heftigere Gegenreakt­ion folgt. Auf jene Art funktionie­rt jedwede Entwicklun­g. Wie in der Evolution, so im Sport. Sie macht auch vor den ganz großen Fischen nicht halt.

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Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa Leroy Sané hat bislang nur selten in wichtigen Spielen seine Klasse für die Bayern gezeigt.

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