Donauwoerther Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (42)

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Sie starrte in die leeren Augen eines verlorenen Gesichts und wartete, ohne sich umzudrehen. Und merkte, dass Liss zögerte.

„Warst du schon mal verliebt?“, fragte sie langsam.

In Sally stieg ein heißes Gefühl hoch, aber es war, als würde es sofort durch ihre Hände in den kühlen Schädel abfließen, und nichts davon blieb übrig als eine eigenartig gelassene Neugier.

„Was ist das für eine Scheißfrag­e?“, gab sie fast ruhig zurück. „Natürlich war ich schon mal verliebt!“Sie betonte das „verliebt“, als sei es ironisch gemeint, was es nicht war. „Und es geht dich nichts an.“

„Nein“, sagte Liss, „ich weiß.“Sie trat neben Sally und berührte mit den Fingerspit­zen auch einen der Schädel. Ganz leicht fuhr sie die Konturen nach. Sally steckte die Hände in die Taschen ihrer immer noch klammen Hose.

„Na ja“, sagte Liss dann in fast leichtem Ton, „ich war jedenfalls verliebt, als ich das erste Mal hierhergek­ommen bin. Ich war ein bisschen älter als du, zwanzig vielleicht.“

„Wer war es denn?“, fragte Sally. „Der mit dem Fahrrad?“

„Das geht jetzt wieder dich nichts an“, antwortete Liss sachlich. „Auf jeden Fall war ich unglücklic­h verliebt. Sehr. In der Zeit bin ich viel per Anhalter gefahren. So bin ich zufällig mal hier gelandet. Ich wollte übrigens auch nicht in die Kirche“, fügte sie ganz leicht lächelnd an. „Aber Kirchhöfe habe ich schon immer gemocht. So habe ich den Karner gefunden. An einem unglaublic­h heißen Junitag.“

Sie verstummte plötzlich. Vielleicht hatte sie das Gefühl, schon viel zu viel gesagt zu haben. Sally kannte das. Es war eigentlich immer besser, nichts zu erzählen. Liss steckte jetzt auch die Hände in die Taschen, lehnte sich gelassen an die Wand aus Knochen und wandte sich ihr zu.

„Und dann kommst du hierher, voller Unglück und den romantisch­en Fantasien, wie es ist, wenn du auf einmal tot wärst, weil du von einer Brücke gesprungen bist oder einen Unfall gehabt hast oder nur noch sechs Wochen zu leben hast – all das eben, was man sich so vorstellt, um die anderen zur Liebe zu zwingen.“

Sally fühlte sich auf seltsame Weise plötzlich so, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt.

„Dann stehst du hier vor zwanzigtau­send Toten, die man alle auseinande­rgerissen hat, vor einer Wand von Schädeln, die so eigenartig schön ist, und du weißt auf einmal, dass dein sogenannte­s Unglück überhaupt keine Bedeutung hat. Dass eigentlich nichts wirklich etwas bedeutet, weil alles vorbeigeht.“

Das Licht ging wieder aus. Diesmal war es Sally, die den Schalter suchte. Das gab ihr die Zeit, die richtigen Worte für das wütende Gefühl zu finden, das ihr eben in den Mund gefahren war und hinauswoll­te. Sie tastete an der Wand entlang und fand ihn. Dann drehte sie sich zu Liss um, die noch immer an der Knochenwan­d lehnte.

„Das ist ein Scheiß!“, sagte sie sehr laut. Ihre Stimme hallte im Karner ein wenig. „Das ist ein ganz großer Scheiß. So leer bist du überhaupt nicht. Ich kenne Leute, die so leer sind, wirklich leer. Solche Leute… ich kenne wirklich genug von denen. Aber was du da sagst, ist einfach nur ein großer Scheiß. Alles bedeutet was. Bloß weil du irgendwann tot bist, heißt das doch nicht …“, sie suchte nach Worten.

Liss sagte nichts. „Was?“, rief Sally in einer ähnlichen Wut wie die, die sie vorhin beim Radfahren gespürt hatte, diese gute Wut, die einen vorantrieb. „Was? Bloß weil du irgendwann auch nur noch… Knochen bist“, sie deutete auf die Wand, „deshalb willst du vorher schon innen drin tot sein? Das bist du nicht. Du nicht. Das ist einfach nur ein Scheiß, den du da sagst.“

Sie drehte sich um und ging aus dem Karner hinaus in den Regen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Liss ihr nachkam, aber Sally ging nicht weg. Sie blieb stehen, als sich Liss neben sie in den Regen stellte.

„Es hat sich damals so angefühlt“, sagte sie ruhig. „Es ist ein guter Ort für mich.“

Sally brauchte ein bisschen. Es stimmte irgendwie. Es war ein guter Ort. Aber was Liss sagte, passte nicht dazu. Und es passte auch nicht zu Liss. Aber sie wusste nicht, wie sie das sagen konnte, ohne dass es blöd klang.

„Hier!“, sagte sie spontan, drehte sich zu ihr um und drückte ihr die regennasse Hand auf die Stirn. „Hier! Du bist warm. Warm, verstehst du?“

Erst als sie die Hand wieder wegnahm, merkte sie, dass es das erste Mal in den drei Wochen war, dass sie sich berührt hatten. Sie hatten sich noch nie die Hand gegeben oder sonst irgendwas. Sally holte tief Luft.

„Ja“, sagte Liss dann plötzlich laut und in überrasche­nd leichtem Ton, „ist ja gut. Ich hab’s verstanden.“

Sie lächelte ein bisschen, und Sally atmete erleichter­t aus.

„Café oder Kirche?“, fragte sie dann.

„Das Reh“, antwortete Sally sehr bestimmt, „wir fahren heim, und du zeigst mir, wie man Reh zubereitet.“Heim, dachte Liss. Sie hat „heim“gesagt.

Auf dem alten Turm in der Burgruine über der Stadt. Eigentlich war die Tür versperrt und zugeschrau­bt, weil die Treppen baufällig waren.

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