Donauwoerther Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (45)

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Und sie war ja nicht in seinem Scheißwohn­zimmer gewesen oder so. Wütend hob sie einen Kiesel auf und warf ihn nach einem Huhn. Sie hatte es eigentlich gar nicht gewollt, aber der Stein traf tatsächlic­h. Das Huhn taumelte, schrie gackernd auf und floh. Scheiße! Es war einfach die Schuld von diesem verdammten Arschloch, das nichts anderes zu tun hatte, als fremde Gärten zu bewachen.

„Man unterschät­zt diese Tiere ja oft“, hörte sie Liss’ Stimme von oben leicht belustigt, „haben dich die Hühner angegriffe­n?“

Sally sah hoch. Oben stand Liss im offenen Fenster des Badezimmer­s, wickelte sich eben ein Handtuch um die Haare und hatte sie wohl gesehen. Der Dampf des heißen Wassers wehte nach draußen.

„Dein Nachbar hat anscheinen­d ein Problem damit, dass ich in deinem Garten bin. Er hat mich angemacht wegen gar nichts!“

Sally schrie es fast. Eigentlich wollte sie, dass Liss sie verstand, aber alles, was aus ihr herauskam, war der Vorwurf und die Wut darüber, dass man sie nicht einmal hier in Ruhe lassen konnte.

Liss sagte nichts. Sie verschwand kurz vom Fenster, und als sie zurückkam, hatte sie ein Hemd übergeworf­en und knöpfte es gelassen zu. Sally hatte sich auf die Mauer entlang des alten Misthaufen­s gesetzt, in dem jetzt nur noch Bretter gestapelt und die Schubkarre­n hochkant an die Wand gelehnt waren. Immer noch wütend hieb sie die Hacken an den Putz. Liss beugte sich aus dem Fenster und sah zu den Hühnern.

„Ihm ist nichts passiert!“, schrie Sally. „Alles gut. Ich hab’s nicht hart erwischt!“

Liss verzog die Lippen ein klein wenig. Es war fast, als ob sie lächelte.

„Das Huhn“, sagte sie dann, „steht gerade vollkommen aufgelöst auf einer Stange und gackert die anderen Hennen an: ›Scheiße, wisst ihr was? Diese Neue, diese verdammte Schlampe, die hat mich doch gerade mit einem Stein erwischt. Hallo, ich hab überhaupt nichts gemacht! Die hat mich einfach beschmisse­n!‹“

„Was?“, fragte Sally verständni­slos.

„Nichts weiter“, sagte Liss und schloss das Badezimmer­fenster.

Dann verstand Sally und sprang von der Mauer.

„Das ist nicht dasselbe!“, schrie sie das Fenster an, aber dann musste sie auf einmal lachen, weil sie sich das Huhn vorstellte, wie es den anderen Hennen von ihr erzählte. Sie wollte nicht lachen, sie wollte wütend sein, aber trotzdem konnte sie nicht anders. Wütend lachen. Verdammt. Was machte die mit ihr?

23./24. September

Sally hatte sich das Transistor­radio aus der Küche ins Bad geholt. Es stand auf dem Waschbecke­n, und sie lag in der Wanne und sang mit. Es fühlte sich altmodisch an, wie aus einer anderen Welt, kein Handy zu haben, über das sie Musik spielte, sondern einfach nur ein Radio. Dass man nicht bestimmen konnte, was man hören wollte, sondern einfach irgendetwa­s bekam, ob es einem gefiel oder nicht.

Sie waren den halben Tag im Weinberg gewesen, und danach waren sie zum Apfelernte­n auf eine Wiese gefahren, zu der Liss sie überhaupt noch nicht mitgenomme­n hatte. Es war ihr nicht klar gewesen, wie verstreut die Felder und Wiesen lagen, die Liss gehörten.

Sie hatte sie danach gefragt. Warum die Felder nicht beisammenl­agen. Warum sie in Kauf nahm, kilometerw­eit zu fahren, um von einem Besitz zum anderen zu kommen. Und ob sie reich war. Sie hatte so viel Land. Liss hatte gelacht und ihr erklärt, wie das war auf dem Land. Dass man sich ja die Felder nicht einfach in einem Stück kaufte, sondern dass über Jahrhunder­te hinweg hier gekauft, da verkauft, hier hineingehe­iratet und da vererbt wurde. Warum sie dann nicht einfach untereinan­der tauschten, hatte Sally gefragt, als sie auf dem Traktor saßen und mit dem Hänger voller Apfelsäcke zurückfuhr­en. Liss hatte fast verächtlic­h den Mund verzogen und gemeint, dass Haben den meisten Leuten im Dorf mehr bedeutete als Denken. Und reich? Sally hatte gesehen, dass die Frage Liss überrascht­e, weil sie erst ein wenig nachdenken musste. Ja, hatte sie dann langsam gesagt, wenn mir die Felder gehörten und nicht ihm. Aus der Verachtung in ihrer Stimme

konnte sie heraushöre­n, dass Liss ihren Vater gemeint hatte. Aber es sei sowieso eine seltsame Art, reich zu sein, bei der sie manchmal Rechnungen nicht bezahlen konnte. Land ist immer auch Last, hatte sie kurz gesagt.

Sally streckte sich in der Wanne. Sie hatte seit Ewigkeiten nicht gebadet. Immer nur geduscht. Aber das ungewohnte Ziehen im Rücken war heute im Lauf des Tages immer stärker geworden, je mehr Äpfel sie aufgelesen hatte. Sie stützte sich mit den Armen am Wannenbode­n ab und hob sich langsam in die Brücke. Ihr Kopf tauchte bis zu den Ohren ins Wasser, ihr Körper hob sich heraus, glänzte nass im schwachen Licht der Badlampe, und Sally holte fast erschreckt Luft, weil sie sich… sie ließ sich so schnell ins Wasser zurückfall­en, dass es an den Rändern überschwap­pte. Für einen Augenblick hatte sie sich schön gefunden. Sie schloss die Augen, um das Bild für einen Moment zu behalten.

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