„Ich habe Flammen gesehen, hohe Flammen“
Die irakische Familie Merza wohnte in Nördlingen gegenüber dem Zimmer, in dem der Brand ausgebrochen ist. Wie sie sich und andere unter Einsatz ihres Lebens rettete.
Gerade mal eine Viertelstunde war es wohl, die am frühen Sonntagabend über Leben und Tod entschieden hat. Gefühlt eine Ewigkeit, denn es musste so vieles passieren in dieser kurzen Zeit, die von Panik erfüllt war. Wenn sich die irakische Familie Merza jetzt allerdings mit ein paar Tagen Abstand darauf besinnt, waren es tatsächlich wohl wirklich nicht mehr als jene 15 Minuten: von etwa fünf Uhr nachmittags bis gegen viertel sechs. Als das verheerende Feuer in einer Halle der Asylbewerber-Unterkunft in Nördlingen gewütet hat, mussten die Bewohner unverzüglich handeln, um sich und andere in Sicherheit zu bringen.
Es ist Freitagmittag, fünf Tage später, als die Hälfte der zehnköpfigen Familie Merza im Aufenthaltsraum des früheren Blumenhotels in Rain sitzt und erzählt. In der Sammelunterkunft der Lechstadt haben die Merzas und 20 weitere Flüchtlinge aus Nördlingen vorübergehend Zuflucht gefunden. Ein Dach über dem Kopf, geschützten Raum, um die traumatischen Erlebnisse zu sortieren, Unterstützung durch Landratsamt und Helferkreis Rain: die 47-jährige Mutter Sanaa Namer, ihre Töchter Zalal Merza, 22, Avahi Merza, 19, und Ronahi Merza, 23, Sohn Birhat Merza, 20, und die fünf weiteren Kinder zwischen zehn und 17 Jahren. Als sie die Szenen vom Sonntag schildern, wird spürbar, wie dramatisch der Kampf ums Überleben gewesen sein muss.
Zwei Zimmer hatte die Familie Merza in der Nördlinger Flüchtlingsunterkunft. Sie lagen gegenüber dem Raum, in dem das Feuer ausbrach. Mutmaßlich hat ein fünfjähriges Kind dort gezündelt. Avahi hielt sich gegen 17 Uhr im Badezimmer auf, als sie den Feueralarm hörte. Sie glaubte zunächst, der durchdringende Laut käme aus einem Handy. „Ich dachte, es sei Spaß.“Dann aber erkannte sie die lebensbedrohliche Lage: „Ich habe Flammen gesehen, hohe Flammen.“
Ronahi stand weiter weg im Küchentrakt und bereitete das Abendessen zu, als der Alarm schrillte. Eine ihrer kleinen Schwestern hatte geistesgegenwärtig den Not-Knopf gedrückt. Eine andere kam „Feuer, Feuer“schreiend in die Küche.
Dann ging alles rasend schnell. Während die Flammen um sich griffen, giftigen Qualm und beißende Dämpfe ausspien, sammelten die Erwachsenen die Kinder ein, brachten sie ins Freie, gingen zurück und suchten in der Halle weiter nach Menschen, die Hilfe brauchten. Die kleineren Mädchen und Buben allerdings, die draußen längst in Sicherheit waren, reagierten
kopflos, als sie ihre Eltern und Geschwister zurücklaufen sahen, und folgten ihnen aus Angst ins Gebäude. „Es war ein ständiges Raus und Rein und wir schoben die Kleinen immer wieder ins Freie“, erinnert sich Avahi an chaotische Momente. „Dadurch haben wir Zeit verloren.“
Die Bewohner reagierten instinktiv. „Wie haben nur an unsere Familien und Nachbarn gedacht“, erzählen die Merzas. Papiere, persönliche Habseligkeiten, oftmals auch Handys blieben zurück. Minutenlang spitzte sich die Tragödie dann zu, als die vierfache Mutter aus dem Zimmer gegenüber eines ihrer Kinder vermisste und dort in den Flammen vermutete. Sie versuchte
panisch, von außen die Scheibe einzuschlagen, um ins Innere zu gelangen, schaffte es aber nicht.
Da kam ihr Birhat Merza zur Hilfe, nahm einen Feuerlöscher, zersplitterte das Fenster und griff durch das zerborstene Glas, um den Griff nach unten zu drücken. Dabei zerschnitt er sich die Hand. Dann wagte er sich sogar noch einen Moment in den brennenden Raum, um allerdings festzustellen, dass sich glücklicherweise niemand darin befand. Alles Weitere überließen die Bewohner dann den Rettungskräften, die anrückten.
Wie geht es den Merzas heute? Birhats zerschnittene Hand musste genäht werden und ist dick bandagiert. Alle anderen sind körperlich unversehrt – und doch seelisch angeschlagen. „Manche von uns können schlecht schlafen“, schildert Avahi. In den Träumen wiederholen sich die Ereignisse. Die Gedanken kreisen, erst recht, weil ein schreckliches Erlebnis wieder wach gerufen wurde: Die Familie Merza hat ihren Vater im Irak verloren – bei einem Brand. „Die Wiederholung der Ereignisse ist schicksalhaft“, empfinden sie.
Sobald es möglich ist, wollen die Merzas zurück nach Nördlingen. Alle Kinder gehen dort zur Schule und wünschen sich Normalität. Sie hoffen auch, einen Teil ihrer persönlichen Gegenstände noch verwenden zu können. „Es ist unklar, wann man die Halle betreten darf“, sagt Landratsamts-Pressesprecher Simon Kapfer. „Noch ermittelt die Kripo dort. Sobald die Freigabe da ist, dürfen alle ihre Sachen holen.“Doch was davon noch zu gebrauchen ist, ist fraglich.
Die Merzas sind unendlich dankbar, mit dem Leben davongekommen zu sein. Ein Todesopfer hat es dennoch gegeben – einen Mann aus der anderen Halle, der später im Krankenhaus an einem Herzinfarkt starb.
Doch Mutter Sanaa Namer ist sich sicher: „Wir hatten alle noch Glück. Hätte es nachts gebrannt, wäre das Ganze viel, viel schlimmer ausgegangen.“