Donauwoerther Zeitung

„Ich habe Flammen gesehen, hohe Flammen“

Die irakische Familie Merza wohnte in Nördlingen gegenüber dem Zimmer, in dem der Brand ausgebroch­en ist. Wie sie sich und andere unter Einsatz ihres Lebens rettete.

- Von Barbara Würmseher

Gerade mal eine Viertelstu­nde war es wohl, die am frühen Sonntagabe­nd über Leben und Tod entschiede­n hat. Gefühlt eine Ewigkeit, denn es musste so vieles passieren in dieser kurzen Zeit, die von Panik erfüllt war. Wenn sich die irakische Familie Merza jetzt allerdings mit ein paar Tagen Abstand darauf besinnt, waren es tatsächlic­h wohl wirklich nicht mehr als jene 15 Minuten: von etwa fünf Uhr nachmittag­s bis gegen viertel sechs. Als das verheerend­e Feuer in einer Halle der Asylbewerb­er-Unterkunft in Nördlingen gewütet hat, mussten die Bewohner unverzügli­ch handeln, um sich und andere in Sicherheit zu bringen.

Es ist Freitagmit­tag, fünf Tage später, als die Hälfte der zehnköpfig­en Familie Merza im Aufenthalt­sraum des früheren Blumenhote­ls in Rain sitzt und erzählt. In der Sammelunte­rkunft der Lechstadt haben die Merzas und 20 weitere Flüchtling­e aus Nördlingen vorübergeh­end Zuflucht gefunden. Ein Dach über dem Kopf, geschützte­n Raum, um die traumatisc­hen Erlebnisse zu sortieren, Unterstütz­ung durch Landratsam­t und Helferkrei­s Rain: die 47-jährige Mutter Sanaa Namer, ihre Töchter Zalal Merza, 22, Avahi Merza, 19, und Ronahi Merza, 23, Sohn Birhat Merza, 20, und die fünf weiteren Kinder zwischen zehn und 17 Jahren. Als sie die Szenen vom Sonntag schildern, wird spürbar, wie dramatisch der Kampf ums Überleben gewesen sein muss.

Zwei Zimmer hatte die Familie Merza in der Nördlinger Flüchtling­sunterkunf­t. Sie lagen gegenüber dem Raum, in dem das Feuer ausbrach. Mutmaßlich hat ein fünfjährig­es Kind dort gezündelt. Avahi hielt sich gegen 17 Uhr im Badezimmer auf, als sie den Feueralarm hörte. Sie glaubte zunächst, der durchdring­ende Laut käme aus einem Handy. „Ich dachte, es sei Spaß.“Dann aber erkannte sie die lebensbedr­ohliche Lage: „Ich habe Flammen gesehen, hohe Flammen.“

Ronahi stand weiter weg im Küchentrak­t und bereitete das Abendessen zu, als der Alarm schrillte. Eine ihrer kleinen Schwestern hatte geistesgeg­enwärtig den Not-Knopf gedrückt. Eine andere kam „Feuer, Feuer“schreiend in die Küche.

Dann ging alles rasend schnell. Während die Flammen um sich griffen, giftigen Qualm und beißende Dämpfe ausspien, sammelten die Erwachsene­n die Kinder ein, brachten sie ins Freie, gingen zurück und suchten in der Halle weiter nach Menschen, die Hilfe brauchten. Die kleineren Mädchen und Buben allerdings, die draußen längst in Sicherheit waren, reagierten

kopflos, als sie ihre Eltern und Geschwiste­r zurücklauf­en sahen, und folgten ihnen aus Angst ins Gebäude. „Es war ein ständiges Raus und Rein und wir schoben die Kleinen immer wieder ins Freie“, erinnert sich Avahi an chaotische Momente. „Dadurch haben wir Zeit verloren.“

Die Bewohner reagierten instinktiv. „Wie haben nur an unsere Familien und Nachbarn gedacht“, erzählen die Merzas. Papiere, persönlich­e Habseligke­iten, oftmals auch Handys blieben zurück. Minutenlan­g spitzte sich die Tragödie dann zu, als die vierfache Mutter aus dem Zimmer gegenüber eines ihrer Kinder vermisste und dort in den Flammen vermutete. Sie versuchte

panisch, von außen die Scheibe einzuschla­gen, um ins Innere zu gelangen, schaffte es aber nicht.

Da kam ihr Birhat Merza zur Hilfe, nahm einen Feuerlösch­er, zersplitte­rte das Fenster und griff durch das zerborsten­e Glas, um den Griff nach unten zu drücken. Dabei zerschnitt er sich die Hand. Dann wagte er sich sogar noch einen Moment in den brennenden Raum, um allerdings festzustel­len, dass sich glückliche­rweise niemand darin befand. Alles Weitere überließen die Bewohner dann den Rettungskr­äften, die anrückten.

Wie geht es den Merzas heute? Birhats zerschnitt­ene Hand musste genäht werden und ist dick bandagiert. Alle anderen sind körperlich unversehrt – und doch seelisch angeschlag­en. „Manche von uns können schlecht schlafen“, schildert Avahi. In den Träumen wiederhole­n sich die Ereignisse. Die Gedanken kreisen, erst recht, weil ein schrecklic­hes Erlebnis wieder wach gerufen wurde: Die Familie Merza hat ihren Vater im Irak verloren – bei einem Brand. „Die Wiederholu­ng der Ereignisse ist schicksalh­aft“, empfinden sie.

Sobald es möglich ist, wollen die Merzas zurück nach Nördlingen. Alle Kinder gehen dort zur Schule und wünschen sich Normalität. Sie hoffen auch, einen Teil ihrer persönlich­en Gegenständ­e noch verwenden zu können. „Es ist unklar, wann man die Halle betreten darf“, sagt Landratsam­ts-Pressespre­cher Simon Kapfer. „Noch ermittelt die Kripo dort. Sobald die Freigabe da ist, dürfen alle ihre Sachen holen.“Doch was davon noch zu gebrauchen ist, ist fraglich.

Die Merzas sind unendlich dankbar, mit dem Leben davongekom­men zu sein. Ein Todesopfer hat es dennoch gegeben – einen Mann aus der anderen Halle, der später im Krankenhau­s an einem Herzinfark­t starb.

Doch Mutter Sanaa Namer ist sich sicher: „Wir hatten alle noch Glück. Hätte es nachts gebrannt, wäre das Ganze viel, viel schlimmer ausgegange­n.“

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Foto: Dieter Mack Beim Großbrand der Nördlinger Asylunterk­unft in der Nürnberger Straße mussten alle Bewohner evakuiert werden. Zehn von ihnen gehören zur irakischen Familie Merza. Sie haben sofort geholfen.
 ?? Foto: Barbara Würmseher ?? Die Familie Merza war unmittelba­r vom Brand in der Nördlinger Asylunterk­unft betroffen. Die vier Geschwiste­r mit ihrer Mutter wollen unerkannt bleiben.
Foto: Barbara Würmseher Die Familie Merza war unmittelba­r vom Brand in der Nördlinger Asylunterk­unft betroffen. Die vier Geschwiste­r mit ihrer Mutter wollen unerkannt bleiben.

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