„Der Mond ist unser achter Kontinent“
Zweimal war Alexander Gerst bereits auf der ISS. Er spricht über die Erforschung des Alls und erklärt, warum die Raumfahrt für Europa wichtig ist.
Herr Gerst, Sie haben Wirtschaftsminister Robert Habeck auf seiner Reise in die USA begleitet. Die Europäer sind an den Mondmissionen der NASA, dem Projekt Artemis, beteiligt. Warum sind diese Missionen wichtig?
Alexander Gerst: Wir steigen als Menschheit, was die Raumfahrt betrifft, gerade wie der erste Fisch aus dem Wasser. Im Vergleich zu unserer langen Geschichte fliegen wir erst einen Augenblick ins All. Der Mond ist unser achter Kontinent und mit dem Raumschiff in drei Tagen zu erreichen. Er ist wie ein Geschichtsbuch für uns, weil er vermutlich aus der Erde heraus entstanden ist. Die Entwicklung des für uns potenziell gefährlichen Sonnenwindes der vergangenen Jahrmillionen ist dort vermutlich im Mondstaub konserviert. Ein Blick in die Vergangenheit ist auch immer ein Blick in die Zukunft. Und wir können dort vielleicht Spuren von den Anfängen des irdischen Lebens finden, die hier nicht mehr auffindbar sind. Sie könnten auf dem Mond in Meteoriten konserviert worden sein, die aus der frühen Erde herausgeschlagen wurden und auf dem Mond gelandet sind. Oder viel banaler – der Zugang zum Mond kann für uns als Menschheit überlebenswichtig werden. Wir können nur dort Meteoritenkrater richtig untersuchen und daraus Rückschlüsse ziehen, wie wahrscheinlich Einschläge von Asteroiden auf der Erde sind. Vielleicht bauen wir irgendwann ein Teleskop auf dem Mond, welches die Erde viel besser vorwarnen kann. Oder eine Startbasis für Missionen zum Ablenken eines gefährlichen Asteroiden.
Das wäre der erste Schritt zur Besiedlung des Mondes.
Gerst: Wir werden in wenigen Jahrzehnten permanent besetzte Forschungsstationen auf dem Mond bauen, so wie wir es auch auf anderen Kontinenten getan haben, die wir zum ersten Mal erforscht haben. Ich vergleiche es manchmal mit den Forschungsstationen in der Antarktis, deren Nutzen zu Beginn ebenfalls angezweifelt wurde. Expeditionen dorthin waren ähnlich komplex wie heutige Weltraummissionen. Heute sind wir heilfroh über die Daten, die wir von dort bekommen, um den Klimawandel zu verstehen.
Sie waren zwei Mal auf der Internationalen Raumstation ISS. Träumen Sie jetzt davon, den Fuß auf den Mond zu setzen?
Gerst: Ja, natürlich. Aber lassen Sie mich davor etwas anderes sagen. Bei dieser Kette von Mondmissionen, die in den nächsten Jahren anstehen, ist es sehr wichtig, dass Europa dabei ist. Die Zusammenarbeit mit der NASA befindet sich auf dem Höchststand, aber wir Europäer müssen aufpassen, dass wir bei der Raumfahrt nicht ins Hintertreffen geraten. Andere Raumfahrtnationen, wie zum Beispiel China und Indien, erhöhen ihr Budget und ihr Engagement exponentiell. Es besteht die Gefahr, dass wir Europäer unseren Platz am Tisch der führenden Raumfahrtnationen verlieren und bedeutungslos werden. Wir brauchen neben Artemis eigene FlaggschiffProgramme wie ein europäisches Raumschiff, damit die Industrie hier die Möglichkeit behält, ihr Know-how zu erhalten, und auch etwas zur internationalen Kooperation beizutragen hat. Eigene Fähigkeiten als „Enabler“für Kooperation sozusagen. Wir haben derzeit kein europäisches Raumschiff. Deshalb sind mein Kollege Matthias
Maurer und ich dem Vizekanzler Robert Habeck sehr dankbar, dass er uns in die USA mitgenommen hat, und dass das Thema Raumfahrt eine große Rolle bei seinen Gesprächen gespielt hat.
In Berichten über die Raumfahrt wird immer auch gesagt, dass die Astronauten wichtige Experimente gemacht haben. Es bleibt aber immer abstrakt, was genau sie da tun. Was macht also ein experimentierender Astronaut?
Gerst: Oh, wie viel Zeit haben wir? Ich allein habe 700 Experimente auf der ISS gemacht.
Ein paar Beispiele würden genügen.
Gerst: Auf uns Weltraumbehörden kommen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu, weil sie auf ihrem Gebiet nicht mehr weiterkommen, gegen eine wissenschaftliche Mauer gestoßen sind. Ich habe zum Beispiel einen Schmelzofen auf der ISS aufgebaut, mit dem man metallische Legierungen auf mehrere Tausend
Grad erhitzen konnte. Die Bedingung der Forschenden war, dass dieses Material kein Randgefäß berührt, während es geschmolzen ist. Das geht nur in der Schwerelosigkeit. Die Forscher haben uns gesagt, dass sie diese Daten zwingend brauchen, um neue Legierungen zu verstehen. Danach können sie weitere Eigenschaften der Legierungen in Computerprogrammen simulieren. Ein weiteres Beispiel ist die Krebsforschung. In Petrischalen wachsen Tumore eher zweidimensional und nicht dreidimensional wie im Körper eines Patienten. In der Schwerelosigkeit kann man sie so wachsen lassen, wie sie im Körper wachsen, und dann Medikamente testen.
Sie schulden uns noch Ihren persönlichen Mondtraum.
Gerst: Ich bin Geophysiker. Mich hat es schon immer fasziniert, woher die Erde kommt, woraus sie besteht, wohin sie geht. Das hat in meiner Kindheit angefangen. Mein Opa war Amateurfunker und hat mich immer mit in seinen Funkraum genommen. Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein, als er seine Antenne auf den Mond ausgerichtet hat. Ich habe in das Mikrofon gesprochen und zweieinhalb Sekunden später war meine Stimme wieder im Funkgerät zu hören. Die Funkwellen waren am Mond zurückgeprallt und kamen zurück zur Erde. Ich weiß noch, wie umwerfend ich es fand, dass ein kleines Stück vom kleinen Alex auf dem Mond war. Als ich dann schon Astronaut war, habe ich mit meinen älteren Kollegen vom ApolloProgramm gesprochen. Sie haben mir erzählt, dass man, wenn man auf dem Mond steht und auf die Erde schaut, sie gerade mit einer Daumenbreite verdecken kann. Stellen Sie sich das mal vor! Sie ist 400.000 Kilometer entfernt. Ich würde gerne wissen, wie sich das anfühlt, und diese Perspektive der zerbrechlichen Erde im schwarzen Kosmos den Menschen auf der Erde vermitteln. Vielleicht trägt es dazu bei, dass wir unseren Planeten etwas besser behandeln. Ich denke, das schulden wir den nächsten Generationen.