Eine Rückkehr in kleinen Schritten
Im Juli 2023 verunglückt der Kaisheimer Bürgermeister Martin Scharr schwer. Jetzt spricht er über den Unfall, dessen Folgen, die Reha und seine Ziele. Ein Besuch.
Es ist ein heißer Sommertag, als der Kaisheimer Bürgermeister Martin Scharr am 9. Juli 2023 auf sein Elektrofahrrad steigt und sich von seinem Wohnhaus in der Bernhardisiedlung auf den Weg in den Kernort macht. Dort steht ein Freiluft-Konzert des Musikvereins im Müksch-Park an. Klar, dass der Rathauschef dort präsent sein will. Auf der Fahrt blickt Scharr nach links auf den Kaisheimer Badeweiher. Dort herrscht bei über 30 Grad reger Betrieb. Der Bürgermeister freut sich, hat die Gemeinde doch in die Infrastruktur der Freizeiteinrichtung investiert. Im nächsten Moment kommt ihm der Zustand der Kreisstraße, auf der er unterwegs ist, in den Sinn. Die soll erneuert werden, ein Thema, das ihn schon seit einiger Zeit beschäftigt. Was dann passiert, daran hat der 54-Jährige keinerlei Erinnerung mehr. Er verunglückt auf der abschüssigen Strecke. Der Unfall kostet ihn beinahe das Leben.
Martin Scharr, so rekonstruiert die Polizei später, verliert an der Linkskurve vor dem Seerosenweiher die Kontrolle über sein Rad und stürzt mit dem Kopf voran gegen einen Laternenmast, das einzige Hindernis in diesem Bereich. „Vielleicht war es ein Moment der Unachtsamkeit“, rätselt das Opfer ein Dreivierteljahr später. Scharr trägt schwerste Verletzungen davon. Er kann und mag sie nicht alle aufzählen: „Sie füllen ein halbes Blatt.“Der Bürgermeister bricht sich mehrere Wirbel und Rippen. Vier Nervenbündel am Hals reißen ab.
Sofort kümmern sich Ersthelfer um den Verunglückten. Der wird mit einem Rettungshubschrauber ins Klinikum Ingolstadt geflogen und dort zunächst ins künstliche Koma versetzt. Nach ein paar Tagen kommt Scharr wieder zu sich, und sein Zustand stabilisiert sich so weit, dass er ins Therapiezentrum nach Burgau verlegt werden kann. Dort verbringt er die kommenden Monate. Er kann weder die rechte Schulter noch den rechten Arm und die rechte Hand bewegen. Laufen kann er ebenfalls nicht mehr. Ein Fortbewegen ist nur mit dem Rollstuhl möglich.
Kurz nach seiner Einlieferung fragt eine Psychologin den Patienten, was denn sein größter Wunsch sei. Scharr antwortet nach eigenen Angaben: „Ich will wieder gesund werden und einmal einen Kinderwagen schieben.“Zwei Wochen später teilt ihm seine Tochter mit, dass sie schwanger ist und er Opa wird. Solche Momente geben Scharr Kraft. Ebenso die zahlreichen Genesungswünsche, die ihn erreichen. Eine der Personen, die ihm Erste Hilfe leisteten, hat er mittlerweile getroffen. Scharr sagt, er sei auch seiner Frau zu Dank verpflichtet. Die habe ihm stets nahegelegt, beim Radeln einen Helm zu tragen. Heute weiß Scharr, dass dieser ihm das Leben rettete.
Jedoch: „Ich musste erst einmal wieder das Laufen lernen.“Eine Physiotherapeutin arbeitet mit ihm intensiv daran. Nach mühevollen Wochen schafft er es, wieder auf eigenen Beinen zu stehen: „Das treibt an.“Anfang Dezember wird Scharr in einer Klinik der Berufsgenossenschaft in Ludwigshafen operiert. Den Ärzten gelingt es, einen der Nervenstränge zu „reparieren“, wie es der Kaisheimer ausdrückt. Noch vor Weihnachten wird er nach Hause entlassen. Seitdem bestimmen Reha-Termine den Tagesablauf: Physiotherapie, Ergotherapie und Osteopathie. Schritt für Schritt wolle er sich in ein normales Leben zurückkämpfen, erklärt Scharr. Eine der Aufgaben: „Schreiben mit der linken Hand lernen.“Denn der rechte
Arm funktioniert noch immer sehr eingeschränkt. Martin Scharr trägt ihn in einer Schlinge, als er dem Besuch die Haustür öffnet. Beim Gehen hinkt er leicht. Wenn er das Haus verlässt, benutzt er zur Sicherheit einen Stock.
Auf den Rat der Mediziner betreibe er ein „Wiedereingliederungs-Management“, so Scharr: „Sie wollen sehen, wie der Körper auf Belastungen reagiert.“Dazu gehöre auch, dass er am Montag eine Sitzung des Kreistags in Donauwörth besucht. Für die PWG rückt der Bürgermeister in das Gremium nach. Dies hätte bereits im vorigen Jahr geschehen sollen, wurde aber wegen des Unfalls verschoben. Nun wird Scharr in das Ehrenamt vereidigt. Die Rückkehr ins Kaisheimer Rathaus sei noch nicht möglich: „Da wäre ich der Chef.“Als solcher könne man nur mit ganzer Kraft agieren.
Daran, dass er wieder seinen Job aufnehmen kann, zweifelt Martin Scharr nicht. Die Prognose der Ärzte sei positiv: Der Arm werde „definitiv wieder funktionieren“, auch wenn noch unklar sei, in welchem Umfang. Anfang April werde sich entscheiden, welche medizinischen Maßnahmen erforderlich sind, sprich: „Ob eine weitere Operation nötig ist oder sich die
Nerven selbst einen Weg suchen.“Anschließend sei wohl auch eine Aussage möglich, wie lange der Genesungsprozess noch andauert.
Derweil ist offen, wer im Rathaus in den kommenden Wochen und Monaten die Geschäfte führt. Zweiter Bürgermeister Markus Harsch hat bekanntlich diese Aufgabe seit Juli übernommen, mittlerweile aber aus gesundheitlichen Gründen das Amt abgegeben. Dritter Bürgermeister Manfred Blaschek springt derzeit quasi nach Feierabend ein. Die Suche nach Kandidaten für den Posten des Vizebürgermeisters läuft. Scharr kennt das Problem, würdigt die Leistung seines (ehemaligen) Stellvertreters („es hat mit ihm gut funktioniert“), bedauert die Entwicklung, kann aber aus dem Krankenstand nicht helfen: „Ich habe derzeit keine Ahnung, wie man das lösen kann.“
Persönlich zähle für ihn nur das: „Nach vorne schauen und Ziele setzen.“Er liebe den Beruf des Bürgermeisters: „Ich will da wieder hin. Je früher, desto besser.“Einen anderen Wunsch hat er sich bereits erfüllt: Er hat den Kinderwagen mit seiner Enkelin Mila, die im Februar zur Welt kam, geschoben – auch wenn es nur ein paar Meter waren.