Ewald Arenz: Alte Sorten (70)
Das Wasser läuft zurück in die Maische. Der Alkohol bleibt Dampf und steigt in das Geistrohr.“
Sie zeichnete mit ihren langen, kräftigen Fingern den Weg des Alkohols am Destillierapparat nach.
„Ich mag die Namen“, sagte Sally. „Dephlegmator. Geistrohr. Hut. Klingt wie aus einem Science-Fiction-Roman.“
Liss nickte schweigend. „Wie ist es passiert?“
Es war ihr so herausgerutscht. Die Frage, die sie seit Tagen im
Mund hatte, auf der sie herumgelutscht hatte. Sie war wie ein alter Kaugummi so hart und geschmacklos geworden, dass sie sie unwillkürlich ausgespuckt hatte. Liss wusste sofort, was sie meinte, das konnte Sally sehen. Ihre Bewegungen wurden eckiger und schneller.
„Du musst es nicht erzählen“, sagte Sally schnell. „Lass. Ich muss es nicht wissen.“
„Doch.“
Liss’ Stimme klang rau und hart. „Ich weiß nicht, wie man so was erzählt. Es kommt immer falsch rüber. Ich hab’s damals schon nicht erzählen können.“
Verdammt. Sie hätte nicht fragen sollen. Es war viel zu früh. Sie sah, dass Liss’ Hände zitterten, als sie wieder an dem roten Hahn drehte und der Temperaturzeiger jetzt ein klein wenig abfiel. Er zitterte auch.
„Ich… wir haben gestritten. Er hat… das klingt so lächerlich. Er hat das Kind geschlagen. Manchmal ganz lange nicht. Manchmal zwei- oder dreimal in der Woche. Und manchmal mich. Und ich weiß… dass man dann nicht… dass das kein Grund ist…“
Sie redete nicht weiter, sondern sah auf den Kessel. Aus dem schmalen Hahn unten an dem langen Zylinder begann es, in das Glaskännchen zu tropfen. Ein scharfer, beißender Geruch nach Spiritus war plötzlich in der Luft.
„Jemanden umzubringen? Ich weiß es nicht. Erzähl es mir.“
Okay. Jetzt hatte sie den Schritt gemacht und explizit gefragt. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und jetzt war der Punkt, wo sich irgendetwas zwischen ihnen entschied. Sie wusste nicht genau, was es war, aber es fühlte sich so an. Liss beugte sich über das Glaskännchen.
„Das ist der Vorlauf“, sagte sie mit trockener Stimme. „Er ist giftig, und man schüttet ihn weg. Deswegen darf man den Kessel nur langsam anschüren. Damit die giftigen Alkohole zuerst verdampfen und den Geist nicht zerstören. So bin ich auch“, fuhr sie übergangslos fort. „Ich habe immer sofort heiß gebrannt. Aus mir kommt alles auf einen Schlag, und dann ist das Gift in allem, was ich tue und sage. Ich kann es nicht erklären. Es war nicht, dass er mich geschlagen hat. Das ist passiert, und ich habe zurückgeschlagen. Manchmal war es fast, als ob er das gewollt hätte. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass er mich gefangen gehalten hat.“„Was?“
Sally verstand nicht sofort, so schockiert war sie. Liss hörte wohl an ihrem Ton, wie entsetzt sie war, und machte eine abwehrende Handbewegung. Das Glaskännchen klirrte in seiner Halterung.
„Nicht so! Nicht im Haus eingesperrt! Das wäre… da kannst du dich befreien. Du kannst weglaufen. Du kannst etwas tun. Aber so war das nicht. Er hat mich innerlich eingesperrt. Durch den Jungen. Dadurch, dass ich nie etwas Richtiges gelernt habe, weil ich so früh schwanger geworden bin. Durch meine Eltern. Die waren immer auf seiner Seite.“Sie machte eine lange Pause, bevor sie bitter und hasserfüllt den letzten Satz ausspuckte.
„Dadurch, dass ich immer noch geglaubt habe, ich würde ihn lieben. So dumm! So unglaublich dumm!“
Sally hörte zu. Sie hörte nur zu. Es gab nichts, was sie sagen sollte. Gar nichts. Liss’ Stimme wurde ruhig; fast geschäftsmäßig.
„Und dann hat es einen Tag gegeben, da hat der Junge die Milch verschüttet. Weiter nichts. Er hat ihm auf die Finger geschlagen. Nicht einmal hart, aber einfach ohne jedes Gefühl. Ich bin aufgestanden und habe gesagt: Komm. In der Wurstküche habe ich dann gesagt, dass er uns nicht mehr anfassen wird, weil ich sonst weggehe und das Kind mitnehme.“
Liss starrte auf den Kessel. Sally war ihr jetzt ganz nah. Sie berührte Liss an der Schulter. Nur mit den Fingerspitzen und ganz leicht.
„Er hat nur so ein bisschen gelacht und gesagt, dass ich ja eh nicht weit kommen würde, ohne
Geld und ohne Job und… dass er mich sowieso nicht gehen ließe. Dass ich und der Junge…“
Sie stockte wieder, und Sally spürte, wie sie ihre Stimme fest machen wollte, als sie sagte:
„…dass wir ihm gehören. Und dass es nie anders sein würde. Und dass er den Jungen schlagen könnte, wann immer er es für richtig hielte. Da hab ich ihn gefragt, was eigentlich aus unserer…“
Sie stockte einen Augenblick, als fiele es ihr schwer, die Worte zu finden. Aber dann wurde ihr Gesicht hart, und sie fuhr fort:
„ …was aus unserer Liebe geworden ist, habe ich ihn gefragt. Dass da mal etwas ganz Besonderes gewesen ist. Und er hat einfach gesagt, einfach so, wie man beim Bäcker ein Brot bestellt, dass er mich ja sowieso nie geliebt hat. Vielleicht hat er es damals nur gesagt, weil er wusste, dass mich das am allermeisten treffen würde. Und dann hat er, ganz kühl, gemeint, dass es ihm immer nur um den Hof gegangen ist.