Donauwoerther Zeitung

So geht’s Sonnensche­in Emily

Im April 2014 prallte ein Auto bei Gempfing an einen Baum und fing Feuer. Die damals 20 Monate alte Emily überlebte nur knapp mit einer Querschnit­tslähmung. Danach war alles anders. Zehn Jahre später sagt sie: „Ich schaff das!“

- Von Barbara Würmseher

Ein rasender Rollstuhl flitzt schnurrend von der Straße um die Hausecke Richtung Terrasse. Er ist in einem Moment gerade noch so aus dem Augenwinke­l wahrnehmba­r, im nächsten ist er auch schon aus dem Blickfeld verschwund­en. Auf den fragenden Ruf „Emily?“kommt keine Antwort mehr. Eine Fata Morgana? Sekunden später öffnet die Elfjährige – schelmisch grinsend – von innen die Haustüre, kaum, dass die Türklingel außen gedrückt wurde. Groß ist sie geworden, unverkennb­ar ein Teenager, doch unverkennb­ar auch Emily – mit ihrem breiten, fröhlichen Lachen, das ihrem Spitznamen alle Ehre macht: Sonnensche­in Emily.

Acht Jahre ist es her, dass unsere Redaktion Emily zuletzt besucht hat, damals noch in Straß, wo sie mit ihren Eltern Bianca und Thomas Gaudermann gelebt hat – in einer viel zu kleinen Wohnung voller Barrieren. Ungeeignet für ein heranwachs­endes Kind, das vielleicht ein Leben lang auf Spezialrol­lstühle angewiesen sein wird, auf einen Treppenlif­t, der sie in den ersten Stock bringt, Patientenl­ifter, die sie in Badewanne oder Bett hieven. Inzwischen lebt Emily in einem Eigenheim in Gempfing, das ganz auf ihre Bedürfniss­e zugeschnit­ten ist.

Emily übernimmt die Führung durchs Haus, lenkt ihren Rollstuhl geschickt mit den Lippen über einen

Joystick. Die Türstöcke sind breit, die Zimmer bieten genügend Platz zum Wenden. Mithilfe von Elektronik, die auf Sprache reagiert, bedient sie die Rollläden, das Licht, lässt Musik spielen und manches mehr. Stolz zeigt Emily ihr Mädchenzim­mer mit rosafarben­em Baldachin, roten Schubfäche­rn, Plüschtier­en, wohin das Auge blickt. Brettspiel­e liegen in einem Regalfach. Es ist ein Mädchenzim­mer wie viele andere auch. Nur das Pflegebett und die Schiene an der Decke erinnern daran, dass sie nicht einfach selbst ins Badezimmer nach nebenan laufen kann.

Emilys Alltag lässt sich leben – mit einer Menge an Vorbereitu­ngen, an teurer Ausstattun­g, an logistisch­er Organisati­on, medizinisc­h bedingter Planung, mit viel Zeitaufwan­d, ständiger personelle­r Präsenz und deutlichen Einschränk­ungen. Denn Emily ist seit einem folgenschw­eren Unfall vor zehn Jahren vom Hals abwärts gelähmt. „Eigentlich würde ich gerne laufen“, sagt die Elfjährige und lacht ihr strahlende­s Emily-Lächeln. „Aber ich kann damit leben, denn Aufgeben ist keine Option.“

Bis zum 23. April 2014 war das Leben der Gaudermann­s perfekt. Emily war entzückend­e 20 Monate alt, stakste munter auf ihren Beinchen herum und erkundete neugierig ihre Welt. Dann kam jener schicksalh­afte Tag, ein wunderbare­r frühsommer­licher Tag, der so schrecklic­h enden sollte. An diesem

Mittwoch fuhr Emilys Tante mit ihrer Nichte nach Neuburg. Die Kleine hatte ein Dirndl an, die Haare zu Zöpfen geflochten und saß unternehmu­ngslustig im Kindersitz auf der Rückbank. Gegen 11 Uhr auf dem Heimweg passierte das Schrecklic­he: Zwischen Burgheim und Gempfing platzte ein Reifen des Autos. Der Wagen brach aus, prallte gegen einen Baum und fing sofort Feuer. „Nichts wie raus“, war der einzige Gedanke der Tante. Da sich die Tür verklemmt hatte, blieb nur der Weg über den Kofferraum und sie zog Emily aus dem brennenden Auto. Äußerlich wirkte das Mädchen unverletzt, atmete aber nicht mehr. Ein Lasterfahr­er leistete Erste Hilfe und verhindert­e so das Schlimmste, ehe der Notarzt übernahm und der Rettungshu­bschrauber die Kleine ins Zentralkli­nikum nach Augsburg flog.

Seitdem ist alles anders. Emily hatte eine rund 80-prozentige Schädigung des Rückenmark­s erlitten und ist vom Hals abwärts gelähmt. Die Prognosen waren niederschm­etternd. Zunächst ging es ums blanke Überleben. Dann sprachen die Ärzte gegenüber den Gaudermann­s von einem lebenslang­en Pflegefall. Emily werde nie wieder schlucken, sprechen, sich bewegen und allein atmen können. Ein Jahr lang war sie mit ihrer Mama Bianca in einer Spezialkli­nik im Chiemgau. Ihr Zuhause war das Krankenzim­mer, ihr Lebensradi­us denkbar eng. Logopädie, Physiother­apie, Waschen, Katheter wechseln, Schleim absaugen, künstliche Ernährung ... der Alltag hatte von jetzt auf gleich jegliche Unbeschwer­theit verloren. Hoffnung und Verzweiflu­ng, neuer Mut und Erschöpfun­g wechselten sich ab. Und nach Hause zurückgeke­hrt kam Emily in einer Welt an, in der sie einerseits große Hilfsberei­tschaft erfahren durfte, in der aber Menschen mit Behinderun­g anderersei­ts auch auf Ablehnung stoßen.

Zehn Jahre sind seitdem vergangen und Emily und ihre Eltern hatten reichlich Zeit, das Leben so anzunehmen, wie es nun ist. „Höhen und Tiefen gibt es überall“, sagt Thomas Gaudermann, „ich denke nicht viel darüber nach. Was getan werden muss, wird getan.“Wenn der Jahrestag naht, tauchen freilich Erinnerung­en auf. Bianca Gaudermann durchlebt schmerzvol­l alles wieder von Neuem und plagt sich mit dem dunklen Gedanken, ob sie den Unfall nicht hätte verhindern können.

Doch Emily macht es ihren Eltern leicht, das Schicksal anzunehmen. Sie ist ein Sonnensche­in und eine Kämpfernat­ur. Mit kleinen Fortschrit­ten zeigt sie, dass ärztliche Prognosen nicht immer stimmen müssen. Die Sonde ist weg, sie isst und trinkt, was auf den Tisch kommt. „Vor allem deftig muss es sein“, beschreibt die Elfjährige, was ihr schmeckt. Sie spricht wie ein Wasserfall, hat einen großen Wortschatz und ein helles Köpfchen.

Die Halskrause ist verschwund­en, Emily kann den Kopf allein halten. Sie bewegt die linke Hand und hat Gefühl in den Fingern. An einem fahrradähn­lichen Gerät trainiert sie zu Hause ihre Beinmuskul­atur und setzt auch sonst ihre Therapien fort: Emily geht zum Schwimmen und aufs Laufband und weitere kleine Wunder dürfen sich gerne einstellen. Alles, was bisher schon passiert ist, ist weit mehr, als anfangs zu erwarten war.

Derzeit besucht die Elfjährige die vierte Klasse der integrativ­en „Grundschul­e West“in Königsbrun­n. Im Herbst will sie dann an die Realschule in Rain wechseln. Mathe, Deutsch, Heimat- und Sachunterr­icht sind ihre Lieblingsf­ächer. Sie geht gerne in die Schule und hat die ungewöhnli­che Einstellun­g: „Die Sommerferi­en sind viel zu lang.“Ihre Eltern und Pflegekräf­te, die 24 Stunden am Tag für Emily da sind, tun alles in ihren Kräften stehende, damit das Leben so normal wie irgendwie möglich ablaufen kann. Urlaube, Kinobesuch­e, Fußballspi­ele ihres Lieblingsv­ereins BVB, Konzerte von Nena über Stahlzeit und Christina Stürmer bis hin zum Metal-Festival in Schrobenha­usen gehören dazu wie bei anderen Teenagern auch.

„Emily hat schon so viel geschafft“, freut sich Thomas Gaudermann. „Ja, hab ich“, nimmt Emily ihm lachend das Wort aus dem Mund. „Und ich lebe weiter. Wenn wir das nicht hinkriegen, dann wäre es ja gelacht!“

 ?? Foto: Barbara Würmseher ?? Emily spielt mit einem Fußball auf der Terrasse ihres Hauses. Die inzwischen Elfjährige ist seit einem schweren Autounfall vor zehn Jahren vom Hals abwärts gelähmt. Doch Emily ist lebensfroh: ein Sonnensche­in.
Foto: Barbara Würmseher Emily spielt mit einem Fußball auf der Terrasse ihres Hauses. Die inzwischen Elfjährige ist seit einem schweren Autounfall vor zehn Jahren vom Hals abwärts gelähmt. Doch Emily ist lebensfroh: ein Sonnensche­in.

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