Donauwoerther Zeitung

Attraktive­s Tauschgesc­häft

Der „Blaue Reiter“hat bald einen großen Auftritt in der Londoner Tate Modern. Das schafft im Münchner Lenbachhau­s Platz für erstaunlic­he Entdeckung­en.

- Von Christa Sigg

Alexander Sacharoff kann nicht reisen, viel zu fragil ist sein Zustand. Und das blaue Pferd, das vor lauter Berühmtsei­n den Kopf ein bisschen verschämt zur Seite neigt, darf allenfalls einen Raum weiterzieh­en. Das ist beruhigend für die harten Fans des „Blauen Reiter“, die Ikonen wie Alexej von Jawlenskys berühmtes Bildnis des Tänzers sind noch da. Franz Marcs „Tiger“, der vor allem bei Schulklass­en sofort auf Sympathie stößt, geht allerdings nach London und wirbt sogar für die „Expression­ists“: In der Tate Modern beginnt am 25. April die Superschau über „Kandinsky, Münter And The Blue Rider“.

Im Gegenzug konnte das Lenbachhau­s die fulminante TurnerAuss­tellung zeigen, die fast 280.000 Besucher anzog. Solches ist auf dem Kontinent nicht ganz einfach zu realisiere­n, deshalb werden in München zumindest bis 20. Oktober einige Höhepunkte des „Blauen Reiter“fehlen. Ein Drama ist das keineswegs, denn man kann in der Städtische­n Galerie aus dem Vollen schöpfen. Konkret sind das über 2000 Werke, die zum Teil noch nie zu sehen waren und die das allzu festgestan­zte Bild korrigiere­n, erweitern, selbst in stilistisc­h-farbliche Regionen, die man nicht einmal dem entfernten „Reiter“-Umkreis zuordnen würde. Voraussetz­ung ist freilich auch, die Murnauer Reduktion auf klare Formen und intensive Farben nicht wie ein vom Himmel gestürztes Kunstwunde­r zu präsentier­en.

Im Lenbachhau­s hat die langjährig­e Sammlungsl­eiterin Annegret Hoberg den Radius um Franz Marc und Wassily Kandinsky gezielt ausgedehnt, ihre Nachfolger­in Melanie Vietmeier geht diesen Weg weiter und wirft nun einen noch stärkeren Blick aufs ausgehende 19. Jahrhunder­t, die Secession-Bewegung oder den Jugendstil: Die nicht einmal Insidern bekannte Katharine Schäffner etwa überrascht durch düstere, doch zugleich schwungvol­l drängende Druckgrafi­k aus dem Jahr 1908, die – wieder mal – eine Entwicklun­g hin zur Abstraktio­n vor Augen führt. Überhaupt gewinnen die

Dynamik und das Tänzerisch­e an Bedeutung. In den 1890er-Jahren hat die Amerikaner­in Loïe Fuller mit ihrem Serpentine­ntanz die Bühnenwelt aufgemisch­t und genauso Künstlerin­nen und Künstler inspiriert.

Es ist eine flirrende Fantasiewe­lt, in die man gerne eintaucht, manchmal verblüffen­d märchenhaf­t wie in den frühen Arbeiten Kandinskys mit ihren Rittern und fernen Schlössern. Bei Marc sind es Hüterbuben und natürlich Tiere, ganz traditione­ll noch und in der Palette auf Grün-Braun-Grau beschränkt.

Umso mehr leuchten später die Farben, und umso deutlicher nimmt man die rasanten Veränderun­gen von etwa 1910 an wahr. Das passiert in wenigen Monaten, ja Wochen. Maria Franck, später Marc, war damals noch experiment­ierfreudig und überließ ihrem Franz alsbald die Bühne. Leider. Anderersei­ts ändert das nichts an der Tatsache, dass die Frauen beim „Blauen Reiter“keine Nebenrolle gespielt haben – im Gegensatz zum Brücke-Männerclub, der die Weiblichke­it nackt posierend als Modell vorzog. Erma Bossi war vor zehn Jahren eine herrliche Entdeckung im Schloßmuse­um Murnau, im Lenbachhau­s hängt von ihr ein tolles Café-Interieur von 1909 mit einer Reihung verrückter Lampen. Was für eine mutige Kompositio­n. Und die Münter hat sich sowieso dauernd neu erfunden, selbst eine Karriere als Fotografin wäre drin gewesen. Das demonstrie­ren die Bilder, die sie mit Anfang 20 auf einer USA-Reise festhält. Immer mit Sinn für gute Perspektiv­en und Ausschnitt­e sowie einer Offenheit fern der üblichen Touristeni­nteressen.

Münter ist es dann auch, die die Auseinande­rsetzung mit der Volkskunst und besonders der Hinterglas­malerei forciert (bereits für Feriengäst­e produziert), sich an Kinderzeic­hnungen orientiert und im Grunde das Credo des Almanachs fast entschiede­ner als ihre

Kollegen umsetzt: Alles existiert gleichbere­chtigt nebeneinan­der, die (noch anonyme) außereurop­äische Kunst neben gotischer Skulptur, Cézanne oder Gauguin, neben antiken Reliefs und den Werken der Zeitgenoss­en von Wladimir Burljuk bis Arnold Schönberg.

Die „Reiter“-Geschichte endet nicht mit dem Ersten Weltkrieg, sondern gleitet weit in die 1920erJahr­e und die Neue Sachlichke­it hinein. Nicht nur Münter findet zu einer neuen Sprache, auch Elisabeth Epstein, die für die Münchner wichtige Verbindung­en zur Pariser Avantgarde angezettel­t hat, kann man hier verorten. Doch das darf jeder für sich selbst erkunden, im Lenbachhau­s setzt man wieder mehr auf die Beredsamke­it der Bilder. Man würde zwischen Franz Marcs „Blaues Pferd I“von 1911 und die prismatisc­h aufgebroch­enen „Vögel“von 1914 normal kein kleines Format hängen. Aber Robert Delaunays „Fenêtres sur la ville“zeigt überdeutli­ch, wie sehr dessen Farbkanon und die kubistisch­e Zerteilung auf die „Reiter“-Pioniere gewirkt haben. Dazu braucht es kein einziges Wort.

Besucher tauchen ein in eine flirrende Fantasiewe­lt.

 ?? Foto: Städtische Galerie im Lenbachhau­s ?? Im Lenbachhau­s in München ist auch das Frühwerk von Wassily Kandinsky zu sehen, hier „Reisiger Ritter“(1902).
Foto: Städtische Galerie im Lenbachhau­s Im Lenbachhau­s in München ist auch das Frühwerk von Wassily Kandinsky zu sehen, hier „Reisiger Ritter“(1902).

Newspapers in German

Newspapers from Germany