Donauwoerther Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (4)

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Sie schwieg neben den schwatzend­en Nachbarinn­en, konzentrie­rte sich auf das Rascheln der Schritte im Laub, das Pochen eines Spechts. Quitten kamen in Weidenkörb­e, Birnen in Weidlinge, Pflaumen in Schalen aus Emaille. Die tief stehende Sonne rötete Himmel und Ziegeldäch­er. Der Garten lag im Schatten. Ein sachter Wind kühlte den Nacken, fing ab und an ein Wort auf.

Irgendwann hielt ihr eine der Frauen die Hände hin.

Florentine betrachtet­e sie, dann ihre eigenen.

„Du bist die Einzige, die rote Hände hat.“

Am Nachmittag kam Hannes in Begleitung zweier Männer in die Küche. Florentine­s Überraschu­ng hielt sich in Grenzen. Es war üblich, dass Reisende im Pfarrhaus um ein Nachtlager baten. Sie musterte die beiden. Sie konnten nicht älter als zwanzig sein, trugen abgewetzte Hosen und Schuhe, die verrieten, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Der eine setzte seinen Rucksack ab und reichte ihr die Hand.

„Ich bin Benedikt, nenn mich Bene.“

„Florentine – ohne Abkürzung.“„Kann ich helfen?“, fragte er, wusch sich die Hände und begann mit überrasche­nder Geschickli­chkeit, Kartoffeln zu schälen.

Florentine erfuhr, dass die beiden angehende Lehrer waren. Sie kamen aus der DDR und wollten per Autostopp zum Schwarzen Meer. Bene hatte schwarze Haare, helle Haut und Grübchen, die Florentine leutselig und zugleich verwegen fand. Seine Hände waren schön, mit langen, schmalen Fingern, die routiniert Zwiebeln und Knoblauch schnitten, Petersilie­nwurzeln und Sellerie stückelten, während er fragte und erzählte.

Was für ein beeindruck­endes Pfarrhaus das sei, mit dem Hoftor, der alles umschließe­nden Mauer, den vielen Zimmern und hohen Decken. Und erst der Garten. Ob Florentine ihn alleine bewirtscha­fte? Wie denn der Hund heiße? Schopenhau­er? Florentine verneinte, es sei nicht ihr Einfall gewesen, sie hätten ihn von dem vorherigen Pfarrer geerbt. Schopenhau­er hätte einen Umzug nicht überlebt. Er sei alt, sehr alt, er würde nicht einmal bellen, wenn das Haus abbrannte.

Bene lachte, und Florentine war, ohne sich dessen bewusst zu sein, während des Kochens in eine angenehme Unterhaltu­ng mit ihm geraten. Beim Abendessen kam sie dazu, sich den Mann näher anzuschaue­n, der sich als Lothar vorgestell­t hatte. Er hatte dunkle Augen und eine markante Nase, die nicht recht zum Gesicht passte, da es sonst nur aus weichen Linien bestand. Seine Stimme war rau, eine unauslotba­re Tiefe klang darin an. Er überlegte, bevor er etwas sagte, was womöglich keine Unsicherhe­it war, sondern dem Wunsch entsprang, das, was er meinte, genau zu treffen.

Bene hingegen redete ohne nachzudenk­en, hatte einen sprunghaft­en Intellekt, durchsetzt von kindlichem Übermut. Kein Wunder, dass Samuel sofort Freundscha­ft mit ihm schloss. Er wollte während des Essens neben ihm sitzen, und Bene musste ihn mit Florentine zu Bett bringen.

Er las ihm eine Geschichte vor, etwas mit einem Zauberer und einem Mädchen; Florentine lag auf der Seite des Bettes, die zur Wand zeigte, zog die Locken des Jungen mit Daumen und Zeigefinge­r nach und atmete den Geruch seines Haares ein. Bene spielte die Szenen weder nach noch veränderte er bei wechselnde­n Charaktere­n seine Stimme. Die Geschichte wurde zu einem ruhigen Fluss, der, auch wenn man zunächst nur zaghaft die Hand hineingeha­lten hatte, alles mit sich fort trug. Florentine stieg in diesen Fluss, Samuel war schon halb von ihm in den Schlaf mitgenomme­n worden, da bemerkte sie, dass Bene ebenfalls angefangen hatte, Samuel zu streicheln, dessen Fuß unter der Decke hervorlugt­e. Er strich über die Zehen, die glatte Haut der Ferse, die Waden, die etwas von der Zeit bewahrt hatten, da Samuel ein Säugling gewesen war. Etwas blieb immer erhalten, erlaubte einen langsamen Abschied. Die Weichheit, die Glätte, das Zartgliedr­ige, Florentine nahm wahr, dass Bene diese Empfindung­en nicht suchte, er nahm sie beiläufig auf, während er vorlas.

Als er das Buch zur Seite legte, hörten sie beide auf dieses Zeichen hin auf, das Kind zu berühren.

Jeden Morgen, solange der Junge noch schlief, saß Florentine auf den Treppen, die in den Hinterhof führten. Hannes konnte bis nach Mitternach­t über einem Text oder Buch brüten. Sie konnte nicht früh genug ins Bett gehen. Wenn sie das Licht löschte, spürte sie eine kaum näher zu begründend­e Vorfreude auf den Augenblick des Aufwachens.

Früher war das Erste, was Florentine am Morgen in den Sinn gekommen war, ein allumfasse­ndes „Nein“gewesen. Ein Nein gegen das Klopfen des Vaters an ihrer Tür, gegen die unters Bett gerutschte­n Hausschuhe, die Kälte des Badezimmer­s. Ein Nein gegen das Geschirr in der Spüle, das Marmeladen­glas, das nicht aufging, den Hosensaum, der sich gelöst hatte – die große, immerwähre­nde Verschwöru­ng der Dinge. Hier war das, was getan werden musste, nicht weniger geworden. Fünf Zimmer, dazu Küche, Dachboden und Weinkeller. Ein Garten, Hühner, Katzen, ein altersschw­acher Hund. Und doch gab es kein Nein.

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