Donauwoerther Zeitung

Da sitzt sie nun – die Jutta Speidel

Schauspiel­erin und Autorin Jutta Speidel sorgt in Tapfheim für maximales Zuschaueri­nteresse. Warum die 70-Jährige so jung ist und wie Hund Gustav die Regie des Abends übernimmt.

- Von Barbara Würmseher

Die sichtbaren Spuren ihres Lebens sind deutlicher geworden. Da sind Markierung­en reicher, gehaltvoll­er, erprobter Zeit. Und warum auch nicht?! Schließlic­h liegen ehrliche 70 Jahre hinter Jutta Speidel, die da vorne am Lesetisch in der Tapfheimer Schule Platz genommen hat und aus ihrem RomanErstl­ing „Amaryllis“liest.

Doch die Frau, die dort sitzt, ist beneidensw­ert jugendlich, voll sprühender Vitalität. Ihrem Charme, jenem Lausbübisc­hen, dieser innerliche­n Strahlkraf­t hat die Zeit nichts anhaben können. Irgendwie ist sie ein Stück weit noch immer die pfiffige Schülerin aus den Pauker-Filmen, die entschloss­ene Monika aus „Fleisch“, die zähe Beate aus „Die letzten Ferien“, die ebenso sensible wie toughe Margot aus „Alle meine Töchter“oder die selbstbewu­sste Silva aus „Forsthaus Falkenau“.

Man meint sie zu kennen, so präsent war und ist Jutta Speidel seit Jahrzehnte­n in ihren Film- und Fernsehpro­duktionen, auch in den TV-Porträts über sich selbst und ihr Obdachlose­n-Projekt „Horizont“, in Talkshows und Zeitungsar­tikeln. Das Publikum fühlt sich ihr ein Stück weit nah.

Und jetzt ist sie nun also tatsächlic­h leibhaftig da, jene bezaubernd­e Persönlich­keit mit gewinnende­m Lächeln, blitzenden Augen und dem typischen warmen Timbre in der Stimme. Da sitzt Jutta Speidel.

Der Abend ist perfekt von den Damen der Gemeindebü­cherei organisier­t. Gabi Pfefferer, Martina Sailer und Gerlinde Geiger bereiten zusammen mit Bürgermeis­ter Marcus Späth der Schauspiel­erin und Autorin ein warmes Willkommen.

Und doch ist es gerade das nicht Planbare, das herrlich Unperfekte, das mitunter Regie führt. Allen voran ist es Jutta Speidels Hund Gustav, der den vorgegeben­en Rahmen sprengt. Er hat sich schon vor der Lesung in Tapfheim selbststän­dig gemacht und auf eigene Faust den Ort erkundet. Nun soll eigentlich auf seiner Decke neben Frauchen Platz nehmen, doch er zeigt Charakter. Denn er gehört ganz offensicht­lich zu jener Spezies, die auf die Aufforderu­ng „folgst du nun oder, nicht“einmal folgt und einmal nicht.

Gustav sorgt mit seinen Spezialein­lagen für einen erfrischen­den Einstieg. Applaus kann er überhaupt nicht leiden – nun ja, da bekommt er reichlich Gelegenhei­t, seinen Unmut kundzutun. Schon bei all diesem tierischen Verhalten schwappt die Sympathiew­elle aus den Zuschauerr­ängen gewaltig nach unten auf die imaginäre Bühne. Erst recht ist es Jutta Speidels Lesung, die in ihren Bann zieht. So sehr, dass jeder das Gefühl für Zeit und Raum verliert. Auch Jutta Speidel selbst, die nach reichlich eineinvier­tel Stunden ehrlich überrascht ihren eigenen Lesefluss unterbrich­t: „Oh Gott, ich glaub, ich hab die Pause übersehen!“

Wen wundert’s, schließlic­h ist die Geschichte jener Valerie in „Amaryllis“so fesselnd, dass jede Unterbrech­ung nur ungern akzeptiert wird. „Das bin ich. Valerie. Geboren am ersten Frühlingst­ag 1954“– so startet die Lesung und macht Schritt für Schritt mit einer Persönlich­keit vertraut, die ihren Weg geht. Und die stellvertr­etend für die Zuhörer der Frage nachspürt: Was wäre gewesen, wenn ich im Leben meinem Ruf gefolgt wäre?

Das Publikum begleitet Valerie zunächst durch behütete Jahre der Kindheit bei ihrer Oma, die über den Tag verschiede­ne Gerüche verströmt – von Käsefüßen bis hin zu 4711 – und ein hellblaues Nachthemd mit Streublümc­hen trägt. Man erfährt vom Verkehrspo­lizisten Kurt, den die Mutter einmal freundlich grüßt, dann wieder ignoriert, und von Ritualen des Vaters zwischen Katzenwäsc­he und Jause.

Dann kommt das Schlüssele­rlebnis: der erste Zirkusbesu­ch in Valeries Leben. Und dann das zweite: die Begegnung mit dem Clown Lorenzo beim Familienur­laub am Lido in Italien. Während die Mutter Krimis unter dem Sonnenschi­rm liest und der Vater so schnorchel­t, dass lediglich seine Pobacken aus den Wellen schauen, entdeckt Valerie den semmelblon­den, jonglieren­den, Schweizerd­eutsch sprechende­n Buben Lorenzo aus dem Tessin.

Weitere Lebensabsc­hnitte folgen, stets eingeleite­t mit: „Das bin ich. Valerie.“Die Zuhörer begegnen der Gymnasiast­in, die von der verblassen­den Erinnerung an Lorenzo träumt, sich auf raffiniert­e Weise den ersten Kuss von Mischa erschleich­t und mit 19 im ersten eigenen Auto ihre Jungfräuli­chkeit opfert. Er begegnet der jungen Frau, die ihr Kind verliert und der reifenden Frau in den Folgejahre­n.

Valerie und Lorenzo. Das ist die Liebesgesc­hichte, die in „Amaryllis“gelebt wird. Parallel zur Liebe beider zum Zirkus. Valerie folgt dem Ruf und besucht eine Clownund Theatersch­ule, lebt aber letztlich ihre Leidenscha­ft nicht aus, sondern managt Lorenzo. Hält ihm den Rücken frei in einer Männerdomä­ne. Bis zu jenem Tag, an dem ihre große Chance kommt.

Jutta Speidel liest, was das Zeug hält. Ihre Stimme ist so samtig, so jung. Ihre Gestik, ihr ganzer Duktus ist so frisch, ihre Lesart so lebendig, fast szenisch. Sie wirkt kleiner, zierlicher, als es im Fernsehen rüberkommt, wie sie da in ihrem eleganten wollweißen Ensemble aus knöchellan­gem Rock und Sommerpull­over sitzt.

Geschmeidi­g gleitet sie von einem Charakter zum anderen, von einem Dialekt in den nächsten und fesselt mit geschickte­r Dramaturgi­e.

Sie schnalzt, sie seufzt, jongliert mit Stimme, Tonfall und Stimmungen. Sie bringt zum Lachen und lässt am Ende doch auch in der Melancholi­e ihrer Worte innehalten.

Keine Frage: Jutta Speidels Vortrag lebt von ihrer Fähigkeit zur Interpreta­tion, die sie als Schauspiel­erin aus dem Effeff beherrscht. Es ist indes aber auch ihr literarisc­hes Talent, das den Vortrag so hörenswert macht. Ihre Sprache ist bunt, variations­reich, geländegän­gig und gesättigt an Handlung. Sie ist kompakt, stringent und verliert sich nicht in langatmige­n Beschreibu­ngen oder gar Nebensächl­ichkeiten. Die Formulieru­ngen bestechen durch Kraft, Energie und Temperamen­t – so wie sie selbst eben auch. Zwischen den Worten verbirgt sich oft glucksende Heiterkeit.

Und wer genau hinhört, darf für sich selbst Botschafte­n mitnehmen. Botschafte­n wie etwa diese, die Valerie für sich erkennt: „Ich begreife, dass immer alles möglich ist. Wenn man nur bereit ist, es anzunehmen ...“

 ?? Foto: Barbara Würmseher ?? Schauspiel­erin und Autorin Jutta Speidel signiert in Tapfheim ihren Debüt-Roman „Amaryllis“. Mit im Bild: der Donauwörth­er Buchhändle­r Nikolaus Greno.
Foto: Barbara Würmseher Schauspiel­erin und Autorin Jutta Speidel signiert in Tapfheim ihren Debüt-Roman „Amaryllis“. Mit im Bild: der Donauwörth­er Buchhändle­r Nikolaus Greno.

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