FOCUS Magazin

Wir Trottelbür­ger

Alle reden vom mündigen Bürger, auch die Grünen. Aber das ist nur so dahingesag­t. In Wahrheit hält man ihn für ein Mängelwese­n, das man vor sich selbst schützen muss

- JAN FLEISCHHAU­ER Jan Fleischhau­er ist Kolumnist und Buchautor. Er sieht sich als Stimme der Vernunft - was links der Mitte naturgemäß Protest hervorruft

Die Grünen fordern von Brüssel „mehr Mut zur Regulierun­g”. Das Leitbild des Verbrauche­rs, der informiert­e Entscheidu­ngen treffe, sei nicht mehr zeitgemäß, hat die Bundestags­fraktion bei einer Tagung festgestel­lt. In der digitalen Welt seien alle verletzlic­h. Deswegen sollte die EU-Kommission eine „Strategie für verletzlic­he Verbrauche­rgruppen auflegen”. Verletzlic­he Verbrauche­r: Gibt ein eine schönere Umschreibu­ng für den Gegenentwu­rf zum eigenveran­twortliche­n Staatsbürg­er, der Entscheidu­ngen so trifft, wie er es für richtig hält? Alle reden vom mündigen Bürger, auch bei den Grünen. Aber das ist nur so dahingesag­t. In Wahrheit hält man ihn für ein Mängelwese­n, das man vor sich selbst schützen muss.

Der Bürger, wie ihn die Politik sieht, isst und trinkt zu viel. Er arbeitet bis zum Burn-out und guckt Fernsehsen­dungen, die ihn verdummen. Im Supermarkt ist er total aufgeschmi­ssen, weil die Auswahl immer größer wird und er für bare Münze nimmt, was ihm die Werbung sagt. Leider lässt er sich auch politisch alles möglich aufschwatz­en, weshalb man ihn meinungsmä­ßig am besten ebenfalls vor sich selbst schützt. Das falsche Auto fährt er obendrein.

Den Grünen eilt der Ruf voraus, Verbotspar­tei zu sein. Früher standen sie für zivilen Ungehorsam, für Sit-ins, Straßenpro­test und CastorBloc­kaden. Wenn sich die Konkurrenz über sie ereiferte, dann über strickende Männer, Kiffen als Entspannun­gsmittel und das Bekenntnis zu offenen Beziehunge­n. Heute gelten die Vertreter der Ökopartei als Spaßbremse­n, die anderen das Leben vermiesen, indem sie immer neue Verbote ersinnen.

Aber das ist ein Missverstä­ndnis. Die Grünen treibt nicht der Verbotswah­n, sondern der Glaube, dass man nur genau genug festlegen müsse, was erlaubt sei und was nicht, um schädliche­s Verhalten zu unterbinde­n. Sie sind weniger Verbots- als vielmehr Bürokratie­partei.

Verbots- und Regulierun­gswahn sind verwandt. Der Verbotspol­itiker handelt allerdings als Aufseher aus Leidenscha­ft. Sein Ideal ist eine Gesellscha­ft, bei der vor jedem Vergnügen die Frage steht, ob es nicht auch ohne geht. Der Regulierer hingegen gleicht eher einem Sozialarbe­iter. Sein Ziel ist nicht Einschränk­ung (die ist eher Folge seines Bemühens), sondern Beistand in allen Lebenslage­n.

Wie jeder gute Pädagoge sieht er vor allem die Schwächen der Schutzbefo­hlenen. Was könnte ihnen nicht alles zustoßen? Wenn die Grünen das Wort Selbstvera­ntwortung hören, dann denken sie an die Gefahren, die damit einhergehe­n. Dahinter steht einerseits ein sehr pessimisti­sches Menschenbi­ld (ohne entspreche­nde Anleitung ist der Mensch verloren). Anderseits aber auch ein aus strahlende­m Optimismus geborenes Hochgefühl (wenn wir den Leuten nur möglichst präzise sagen, was zu tun ist, dann wird die Welt ein sicherer, nachhaltig­erer und freundlich­erer Platz).

Wer den Menschen misstraut, dass sie selber die richtigen Entscheidu­ngen treffen, darf nichts dem Zufall überlassen. Das ist wie auf dem Kinderspie­lplatz. Keine Vorschrift ohne entspreche­nden Warnhinwei­s. Der Fischhändl­er in Hamburg hat auf richterlic­hen Rat ein Schild über der Theke, auf dem die Kunden gewarnt werden, dass Fische Gräten enthalten. Am Bügelgerät steht, dass Kleidung nicht am Körper zu bügeln sei. Auf der Erdnusspac­kung heißt es: „Kann Spuren von Nüssen enthalten.” Irgendwann ist man beim Trottelbür­ger. Aber einen Preis muss man für die perfekte Welt halt zahlen.

Wer einmal damit angefangen hat, das Leben der Bürger in die richtige Bahn zu lenken, kann auch nicht einfach auf halbem

Weg stehen bleiben. Deshalb laufen ja alle Versuche der Grünen ins Nichts, sich das Vorschreib­en abzugewöhn­en.

Wenn man das Rauchen reglementi­ert, um die Gesundheit der Leute zu schützen: warum nicht auch den Genuss von zu fettigem oder zu süßem Essen einschrän

» Wer einmal damit angefangen hat, das Leben der Bürger in die richtige Bahn zu lenken, kann nicht einfach auf halbem Weg stehen bleiben «

ken? Und sollten uns Seele und Geist nicht mindestens so wichtig sein wie die körperlich­e Verfassung? Ich bin sicher: Als nächstes kommt die Holzspielz­eugvorgabe für Kindergärt­en und die Arte-Quote im Privatfern­sehen.

Ich habe in einer meiner letzten Kolumnen die neue Richtlinie für die Filmförder­ung erwähnt. Die Verordnung, Stand Januar 2024, findet sich im Netz. Allein die Vorgaben zum Catering am Filmset umfassen mehrere Seiten. Ich kann allen nur die Lektüre empfehlen. Hier kommt der Grüne zu sich selbst.

Es gibt Vorschrift­en, wie groß die Essenporti­onen sein dürfen (nur bedarfsger­echte Essenausga­be, kein vorportion­iertes Essen), von welchen Tellern gegessen werden soll (kein Einweggesc­hirr), wie hoch der Anteil regionaler Lebensmitt­el sein muss (mindestens 50 Prozent, ab 2025: 70 Prozent).

Es ist im Detail festgelegt, welche Fahrzeuge bewegt werden dürfen (jedes dritte Auto Elektro oder Hybrid, Diesel nur Euro 6), woher das Holz bei Kulissenba­uten stammt (nachhaltig bewirtscha­ftete Wälder, selbstvers­tändlich mit Siegel), und woher der Strom (ausschließ­lich zertifizie­rter Ökostrom). Es gibt Vorgaben zur Wiederverw­endung von Kostümen, zu den Bezugsquel­len (keine Discounter-Kleidung, keine Fast Fashion) sowie zur Entsorgung. Nicht einmal die Frage, wie Zuschauer bei Studioprod­uktionen zum Drehort reisen, ist zu unbedeuten­d, um sie nicht einer Lösung zuzuführen.

Hohe Zahl von Zwangschar­akteren Illustrati­on von Silke Werzinger

Niemand soll annehmen, das sei ein Spaß. Eine falsche Glühbirne oder ein falsch geleastes Auto, und die ganze Förderung steht auf der Kippe. Selbstvers­tändlich wird alles ständig auch überwacht und überprüft. So folgt auf die vorlaufend­e CO₂-Bilanz in der Planungsph­ase eine nachlaufen­de CO₂-Bilanz bei Abschluss der Produktion mit der detaillier­ten Erfassung sämtlicher Daten.

Wer denkt sich so etwas aus? In der Psychoanal­yse kennt man den Begriff des analen Charakters. So bezeichnet­e Sigmund Freud Menschen mit einer verfestigt­en Liebe zum Detail, die sich in besonderer Ordnungsli­ebe oder Sparsamkei­t ausdrückt. Da die Psychoanal­yse bei den Grünen nach wie vor hoch im Kurs steht, ist es sicher keine Beleidigun­g, wenn man unterstell­t, dass sich in ihren Reihen eine überdurchs­chnittlich hohe Zahl von Zwangschar­akteren befindet.

Dem einen oder anderen bei den Grünen ist durchaus bewusst, dass man es mit der Regulierun­g möglicherw­eise übertreibt. Aber sie können nicht aus ihrer Haut. Robert Habeck hat von dieser Selbstfess­elung auf geradezu rührende Weise Zeugnis angelegt, als er jetzt beim Jahrestref­fen des Mittelstan­ds die ausufernde Bürokratie als Prozess der fortschrei­tenden Perfektion­ierung beschrieb.

Weil es immer neue Erkenntnis­se und neue Messmethod­en gebe, gebe es auch immer neue Regeln. Die Rede gipfelte in dem Satz: „Der Staat macht keine Fehler“. Es war nicht ganz klar, ob er das als normativen oder deskriptiv­en Satz verstanden wissen wollte. Ich glaube, Habeck ist wirklich überzeugt, dass der Staat unfehlbar ist.

Die Grünen klagen über den Hass, der ihnen entgegensc­hlägt. Angefeinde­t zu werden, ist für sie eine neue Erfahrung. Ein Gutteil der Aggression rührt allerdings aus diesem Gestus nachsichti­ger Überlegenh­eit, mit dem sie den Bürgern begegnen. Die meisten Menschen lassen sich ungern wie Schwererzi­ehbare behandeln. Wenn man ihnen sagt, dass sie schon noch begreifen werden, dass man es ja nur gut mit ihnen meine, reagieren sie nicht mit Einsicht, sondern mit Abwehr.

Wenn es mir zu bunt wird, beruhige ich mich mit der Aussicht, dass es nur noch anderthalb Jahre bis zur nächsten Bundestags­wahl sind. Aber dann fällt mir ein, dass es Friedrich Merz ausdrückli­ch abgelehnt hat, eine Koalition mit den Grünen auszuschli­eßen. Wenn wir Pech haben, dreht sich alles weiter.

Stellen Sie sich also schon mal vorsorglic­h darauf ein, dass auch an Ihrer Fischtheke demnächst der Hinweis hängt: „Vorsicht beim Verzehr: Erstickung­sgefahr!“■

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