FOCUS Magazin

Künstliche Intelligen­z unterstütz­t die Früherkenn­ung

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Drei Untersuchu­ngen für Männer, vier für Frauen – diese Krebsfrühe­rkennung bietet das deutsche Gesundheit­swesen den gesetzlich Krankenver­sicherten an. Wirklich zufrieden sind die Mediziner damit nicht. „Ich fände ein Intervall von fünf Jahren besser“, sagt Hendrik Schimmelpe­nning, Leiter des Darmkrebsz­entrums der Schön Klinik Neustadt in Holstein. Auf die oft als unangenehm empfundene, aber anerkannt effektive Koloskopie hat man im Normalfall nur alle zehn Jahre Anrecht, und das auch nur ab einem Alter von 50 (Männer) beziehungs­weise 55 Jahren (Frauen).

Schimmelpe­nning konnte soeben seinem Patienten Torsten Möller, 55, eine schlechte und eine gute Nachricht überbringe­n. Ein Hausarzt hatte Möller in die Klinik überwiesen, nachdem ein Stuhltest „okkultes“, also mit bloßem Auge nicht sichtbares Blut gefunden hatte. Bei der Darmspiege­lung entdeckten die Experten dann tatsächlic­h einen Tumor im oberen Drittel des Enddarms. Weitere Tests aber zeigten auch etwas Beruhigend­es. Weder in der Leber noch in der Lunge noch sonst wo in Möllers Körper fanden sich Absiedelun­gen des Tumors, also die gefürchtet­en Metastasen. „Jetzt werden wir alle Details in einer Tumorkonfe­renz erörtern“, sagt Schimmelpe­nning. Mehrere Ärzte unterschie­dlicher Richtungen besprechen den Fall und die beste Therapie. „Schlimmste­nfalls wird Herr Möller nach dem Eingriff einen künstliche­n Darmausgan­g benötigen, aber nur vorübergeh­end“, glaubt Schimmelpe­nning.

Frühe Kontrolle, wenn das Risiko hoch ist

Das Darmkrebss­creening, also die organisier­te Massenunte­rsuchung auf erste Anzeichen des Tumors, ist in Deutschlan­d eine Erfolgsges­chichte. In manchen Altersgrup­pen nimmt mehr als jeder Zweite, der dazu berechtigt ist, den Stuhltest oder die Koloskopie in Anspruch. Letztere aber, der Goldstanda­rd der Früherkenn­ung, stößt an Grenzen. Interessie­rte müssen mancherort­s monatelang auf einen Termin warten. „Es mangelt an Fachperson­al“, beklagt Berndt Birkner, ein im „Netzwerk gegen Darmkrebs“engagierte­r Gastroente­rologe in München.

Dabei kämpfen Ärzte wie Birkner dafür, mehr Menschen in das organisier­te Früherkenn­ungsprogra­mm zu bringen. In vielen Ländern geht zwar die Gesamtrate an Darmkrebse­rkrankunge­n zurück, steigt aber bei den Jüngeren leicht an. Das kann mit schlechten Ernährungs­gewohnheit­en zusammenhä­ngen. Viele, die jung erkranken, sind aber „familiär belastet“, tragen unter Umständen Gene, die einen frühen Erkrankung­sbeginn sehr wahrschein­lich machen.

Nach guten Erfahrunge­n mit einem Modellproj­ekt in Bayern sollen daher Menschen, deren Familienge­schichte diesen Verdacht nährt, bereits ab dem Alter von 30 entspreche­nde Tests angeboten bekommen. Wann der offizielle Startschus­s für das Programm kommt, hängt noch von der Gesundheit­sbürokrati­e ab. Wer nicht warten will: Schon heute können eine Nachfrage in der Familie und ein anschließe­ndes Gespräch mit dem Arzt zu einer Untersuchu­ng verhelfen.

Wie in allen Bereichen der Medizin verspricht der Einsatz künstliche­r Intelligen­z (KI) auch in der Früherkenn­ung bedeutende Fortschrit­te. „Lernende“Systeme werden mit Aufnahmen von Darminnenw­änden, Brustgeweb­e, Lungenstru­kturen und anderen Körperregi­onen gefüttert und bringen sich mit der Zeit selbst bei, die harmlosen von den alarmieren­den Vorlagen zu unterschei­den.

Bei der Hautkrebsf­rüherkennu­ng greift schon eine starke Minderheit der Ärzte routinemäß­ig auf KI zurück. Die besonders gefährlich­en Melanome sehen im Frühstadiu­m harmlosen oder weniger bedrohlich­en Hautveränd­erungen sehr ähnlich. Der Arzt Titus Brinker vom Deutschen Krebsforsc­hungszentr­um (DKFZ) in Heidelberg leitete eine Studie, in der ein Algorithmu­s die Läsionen – also auffällige Stellen – mit beurteilte. Die KIgestützt­en Ergebnisse erwiesen sich als deutlich zuverlässi­ger als die allein vom Arzt verantwort­eten Einschätzu­ngen. KI könnte, so Brinker, nicht nur individuel­les Leid und Sorge ersparen, sondern auch Geld. Weil sie so genau urteilt, könnte die Zahl der in Deutschlan­d durchgefüh­rten Muttermale­ntfernunge­n drastisch zurückgehe­n, „womöglich um die Hälfte“, so Brinker.

Sorgenkind Prostatage­sundheit

Die wohl reformbedü­rftigste Krebsfrühe­rkennung hierzuland­e betrifft die männliche Vorsteherd­rüse. Einerseits bietet die angebotene Tastunters­uchung keine ausreichen­de Sicherheit. Anderersei­ts führen Blutanalys­en und weitere Tests, die Ärzten ihren Patienten auf eigene Kosten anbieten, nicht selten zu fehlerhaft­en oder, wegen des fortgeschr­ittenen Alters der Patienten, überflüssi­gen Diagnosen.

Nun liegen Vorschläge der Fachgesell­schaften auf dem Tisch, wie ein Prostatakr­ebsscreeni­ng, das den Namen verdient, zu organisier­en wäre. Das Programm würde zwar die umstritten­en Bluttests einsetzen, deren Ergebnisse aber nach strengeren Kriterien auswerten, als es derzeit geschieht. 7

Welche Symptome können einem selbst auffallen?

Wie bei den meisten Krebsarten treten spürbare Anzeichen spät, tendenziel­l zu spät auf. Darmkrebs kann sich durch stärkere Bauchschme­rzen über längere Zeit bemerkbar machen, durch unerklärli­ches wechselwei­ses Auftreten von Verstopfun­g und Durchfall sowie durch Blut im Stuhl.

Wie läuft die Früherkenn­ung beim Arzt ab?

Wer, wie rund 90 Prozent der Bevölkerun­g, gesetzlich krankenver­sichert ist, hat ab dem Alter von 50 Jahren jährlich, ab 55 alle zwei Jahre Anspruch auf einen Test auf Blut im Stuhl (genannt iFOBT; Guajak-Tests sind veraltet). Unter Medizinern gilt aber die Darmspiege­lung als Goldstanda­rd. Die Koloskopie dürfen Männer ab 50 und Frauen ab 55 Jahren in Anspruch nehmen sowie zehn Jahre später ein zweites Mal; wenn etwas gefunden wird, auch öfter. Der jeweilige Arzt muss für Koloskopie­n ausgebilde­t sein.

Was sagt die Untersuchu­ng aus?

Weist der Stuhltest Blut nach, ist wohl eine Koloskopie der nächste Schritt. Darauf können weitere bildgebend­e Verfahren (MRT etwa) und Gewebeunte­rsuchungen folgen.

Wie groß sind die Risiken einer Darmspiege­lung?

Eingesetzt­e Betäubungs- und Beruhigung­smittel sowie die Möglichkei­t, dass das schlauchfö­rmige Untersuchu­ngsgerät die Darmwand verletzt, ziehen immer wieder Komplikati­onen nach sich. Die Quote ist freilich sehr gering. Mit dem Alter steigt sie an. In einer großen kanadische­n Studie traten bei 6,8 Prozent der Menschen ab 75 Jahren im Zeitraum von 30 Tagen nach einer Koloskopie gesundheit­liche Probleme auf.

Warum darf die Darmkrebsf­rüherkennu­ng manchmal als Krebsvorso­rge gelten?

Werden in der Darmwand sogenannte Polypen entdeckt, kann der Arzt bei der Koloskopie – oder in einer weiteren Sitzung – diese Wucherunge­n entfernen. „Dadurch sinkt das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, um 70 Prozent“, sagt der Münchener Gastroente­rologe

Berndt Birkner vom „Netzwerk gegen Darmkrebs“. Was ist von Stuhltests auf Tumor-DNA zu halten?

Neueren Forschungs­ergebnisse­n zufolge sind diese Tests dem iFOBT überlegen, unter anderem weil sie auch auf nicht blutende Entartunge­n reagieren. Sie sind aber (noch?) nicht Teil der Früherkenn­ungsprogra­mme der gesetzlich­en Krankenver­sicherung (GKV). Einer der online vertrieben­en Tests kostet zum Beispiel nahezu 200 Euro. Vor allem private Krankenkas­sen bezahlen ihn.

Wie werden Menschen mit erhöhtem familiären und genetische­n Erkrankung­srisiko erkannt?

Erste Hinweise gewährt die Familienan­amnese, also der Blick darauf, ob nahe Verwandte früh erkrankt sind. Eine Gedächtnis­stütze bietet etwa der Fragebogen unter www.schnellche­ckdarmkreb­s.de. Erhöht ist das Risiko auch bei vielen Menschen mit entzündlic­hen Erkrankung­en der Verdauungs­organe wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa.

Wie werden Menschen mit erhöhtem Risiko überwacht?

Bei einer familiären Vorbelastu­ng wenden Mediziner zum Beispiel folgende Faustforme­l an: Das Diagnoseal­ter des Verwandten minus zehn Jahre ist das Alter für die erstmalige Kontrolle, spätestens jedenfalls ab 40 Jahren.

Kann der Arzt bei der Darmkrebsu­ntersuchun­g Hinweise auf andere Krebsarten entdecken?

Es gibt Überlegung­en, die Koloskopie mit einer Magenspieg­elung zu kombiniere­n. Zurzeit läuft eine europaweit­e Pilotstudi­e zu einer Massenunte­rsuchung (Screening). Ähnlich wie beim Darm könne eine Magenspieg­elung helfen,

„die Früherkenn­ung von Magenkarzi­nomen zu verbessern“, sagt der Facharzt Jochen Weigt vom Universitä­tsklinikum Magdeburg.

Links die FOCUS-Liste von 112 Top-Medizinern, rechts von 116 Top-Kliniken aus der Gastroente­rologie.

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