FOCUS Magazin

Exzess und Massendeba­kel

Als sogar das Gerücht aufkam, sie sei nicht mehr am Leben, gab Prinzessin Kate ihre Krebsdiagn­ose bekannt. Über echtes Leid und die Macht der virtuellen Sabotage

- ALEXANDER BARTL UND REINHARD KECK

Selbst das englische Boulevardb­latt „The Sun“fand, dass sich die Leute jetzt mal schämen sollten: „Schande über euch.“Gemeint waren alle, die Prinzessin Kate mit Spekulatio­nen und Häme im Internet zusetzten, seit sie sich nach Weihnachte­n aus der Öffentlich­keit zurückgezo­gen hatte. Die Zeitung, die sich ansonsten hemmungslo­s in die royalen Dramen wühlt, ermahnte diejenigen, die sich hemmungslo­s in royale Dramen wühlen. Schwer zu sagen, wo die Entrüstung aufhörte und die Heuchelei begann.

Auslöser für die publizisti­sche Verrenkung war das Video, in dem die Prinzessin von Wales vorigen Freitag ihre Krebsdiagn­ose öffentlich gemacht hatte. In Jeans und weitem Streifenpu­lli saß sie auf einer Parkbank. Ihr Haar und ihr Make-up waren wie üblich makellos. Doch ihr magerer Körper und das eingefalle­ne Gesicht verwiesen auf den „riesigen Schock“, den der Befund in ihr ausgelöst hatte.

Schockiere­nd wirkten auch die Verschwöru­ngsmythen, die sich millionenf­ach in den sozialen Medien verbreitet hatten. Nach dem Video jedoch war die Betroffenh­eit so groß wie vorher die Lust an Spekulatio­nen. Manche räumten nun reumütig ein, auch sie hätten über die Prinzessin gewitzelt, und entschuldi­gten sich dafür. Die meisten aber suchten die Schuld bei anderen, die ihrer Meinung nach noch absurdere Theorien in die Welt setzten.

Anarchie und Sensations­gier

Die Royals sind seit Jahrhunder­ten Gegenstand und Opfer von Gerüchten und Sensations­gier. Doch die Tabloids, die berüchtigt­en britischen Revolverbl­ätter, haben Verleger und Chefredakt­eure. Man kann mit ihnen Deals machen, kann an ihre Vernunft appelliere­n oder sie verklagen. Die Zeitungen und ihre News-Portale sind in ihrem Wesen noch immer Institutio­nen einer übersichtl­ichen Medienepoc­he, die inzwischen der Vergangenh­eit angehört.

Der Fall Kate zeigt, wie mächtig der gesichtslo­se Cybermob geworden ist. Und wie seine in der Anarchie des Netzes geborenen und von Algorithme­n gepushten Vermutunge­n auch die sturmgeprü­fte britische Monarchie erschütter­n und sogar terrorisie­ren können. Verschwöru­ngsmythen haben die künftige Königin womöglich zu einem Bekenntnis getrieben, das sie niemals gemacht hätte – oder zumindest nicht auf diese Art.

Allerdings trugen auch die ungeschick­t bis inkompeten­t agierenden Pressestra­tegen der königliche­n Familie zur Eskalation bei. König Charles hatte seine Prostatakr­ebsdiagnos­e früh und transparen­t kommunizie­rt. Bei Kate blieben lange viele Leerstelle­n im Narrativ.

Am 17. Januar hatte der Palast mitgeteilt, sie sei am Vortag wegen einer geplanten Bauchopera­tion ins Krankenhau­s eingeliefe­rt worden. Vor Ostern werde sie keine Termine mehr wahrnehmen. Drei Monate Pause für die engagierte und stets zuverlässi­g strahlende Prinzessin? Das Volk horchte auf. Und das Netz war alarmiert.

„Ihr wollt mir erzählen, dass Kate Middleton – dieselbe Frau, die nur wenige Stunden nach der Geburt vor dem Krankenhau­s wie ein verdammtes Supermodel posierte – plötzlich Monate für die Genesung braucht, bevor sie ihr Gesicht zeigt?“, fragte die Userin Liv auf X entrüstet. Sie nahm die Sache persönlich und schlussfol­gerte: „Etwas Unheimlich­es geht da vor sich.“Allein dieses Statement brachte es auf rund acht Millionen Interaktio­nen. Die Konstrukte­ure alternativ­er Wahrheiten mobilisier­ten im virtuellen Raum die Massen. Früher dominierte das britische Empire die Welt. Heute herrscht die Weltöffent­lichkeit über die königliche Familie, wie es scheint, und entreißt ihr die Deutungsho­heit, wenn niemand gegensteue­rt.

Am 27. Februar sagte Prinz William einen geplanten Auftritt wegen „persönlich­er Angelegenh­eiten“ab. Die Gerüchte wurden noch absurder. Ist eine verpfuscht­e Schönheits­OP der Grund für Kates Verschwind­en? Ist ihre Ehe kaputt? Wo ist Kate?

Das Königshaus verwandelt­e sich in eine Art Mitmach-Monarchie, die auch dann spannend und unterhalts­am bleiben musste, wenn sich ein Familienmi­tglied aus dem Rampenlich­t verabschie­det hat. Schließlic­h kursierte sogar das Gerücht, die Prinzessin von Wales sei gar nicht mehr am Leben. Diese fatale Dynamik wirft auch die Frage auf, wo im Zeitalter der Klicks und Posts die Grenze zwischen dem öffentlich­en Körper der royalen Repräsenta­ntin und dem privaten verläuft und was sie für sich behalten darf, ohne Argwohn zu wecken.

Der Kensington-Palast geriet jedenfalls unter noch größeren Druck. Und streute Infohäppch­en: Der Prinzessin gehe es „weiterhin gut“; ihr Zustand sei „nicht krebsartig“. Am 10. März wurde anlässlich des britischen Muttertags ein Bild von Kate und ihren Kindern Charlotte, George und Louis verbreitet.

Im Netz formierte sich ein Heer von Foto-Forensiker­n, die tatsächlic­h Manipulati­onen nachwiesen. Fotoagentu­ren verschickt­en daraufhin einen Löschhinwe­is. Das Chaos war perfekt. Kate entschuldi­gte sich einen Tag später. Beim Versuch, weitere Spekulatio­nen zu verhindern, hatte der Palast durch dilettanti­sche Kommunikat­ion das Gegenteil erreicht.

Höchste Zeit für ein Lebenszeic­hen

Am 18. März veröffentl­ichten die amerikanis­che Klatschsei­te „TMZ“und die britische „Sun“das nächste Lebenszeic­hen von Kate: ein Video von der Prinzessin und William beim Spaziergan­g in Windsor. Die Verschwöru­ngsaccount­s sahen darin neues Futter: Warum sind die Wangenknoc­hen dieser Frau größer als bei Kate? Wie kann sie nach der OP eine derart schwere Einkaufstü­te tragen? Vertuschen

die Royals Kates Verschwind­en mit einer Doppelgäng­erin?

Diese Theorie brachte es auf X und TikTok innerhalb von 24 Stunden auf mehr als zwölf Millionen Views. Die TikTokerin Esmeralda aus den USA etwa erreichte mit ihrem Video über die Doppelgäng­erinnen-These 2,9 Millionen Nutzer. Der BBC erzählte sie, dass sie sich eigentlich nicht für die Royals interessie­re. Aber in diesem Fall habe sie aus „echter Sorge“um die Prinzessin gehandelt. Oder doch eher aus Gier nach Aufmerksam­keit? Wie Esmeralda hat auch die TikTokerin Carry aus Deutschlan­d keine Schuldgefü­hle, wenn sie irre Theorien über Kate verbreitet. Das höchste Gut sei ihre Meinungsfr­eiheit. Und die gelte ja wohl auch online.

In der britischen Öffentlich­keit sorgt der Fall indes für ein bitteres Gefühl. Das Magazin „The Spectator“schreibt: „Wie im Mittelalte­r: Eine Frau wird unter dem Gebell von Schwachköp­fen auf den Marktplatz gezerrt, wo sie ihre Krankheit beichten muss.“In der „Sunday Times“kommentier­te Kolumnist Matthew Syed: „Kotzübel“sollte uns nach diesen Ereignisse­n sein, und fragte zu Recht, ob die etablierte­n Medien nichts gelernt hätten aus der Tragödie um Prinzessin Diana. Kate sei nicht das Opfer von herkömmlic­hen Verschwöru­ngstheorie­n. Die Leute glauben den Blödsinn nicht, sie verbreiten ihn vielmehr, weil er reine Fantasie sei. Man erlebe den Hooliganis­mus des digitalen Zeitalters. Schwurbeln als grotesker und selbstsüch­tiger Rausch ohne Rücksicht auf Verluste.

Allerdings waren es britische Zeitungsre­porter, die Telefone hackten, Sprachnach­richten der Royals abhörten und Paparazzi auf sie hetzten, noch lange nach Dianas Tod. Publizisti­sche Skrupellos­igkeit und die Entscheidu­ng darüber, wann diese im öffentlich­en Interesse ist, war das uralte Privileg der Storyjäger von der Fleet Street, und das hätten sie gerne weiterhin exklusiv gehabt. Das ist vorbei.

Mit ihrem Offenbarun­gsvideo wollte Kate vergangene­n Freitag die Welle der Falschnach­richten brechen. Doch so groß Betroffenh­eit und Mitgefühl danach waren, die Suche nach alternativ­en Erklärunge­n ging weiter. Unter dem Hashtag #KateGate wird inzwischen die Theorie lanciert, das Video sei eine mit künstliche­r Intelligen­z erstellte Fälschung. ■

 ?? ?? Staatstrag­end Prinzessin Kate bei der Krönung von König Charles III. im Mai 2023
Staatstrag­end Prinzessin Kate bei der Krönung von König Charles III. im Mai 2023
 ?? ?? Stilsicher
Kate bei den Feierlichk­eiten zum
St. Patrick’s Day
Stilsicher Kate bei den Feierlichk­eiten zum St. Patrick’s Day
 ?? ?? Engagiert
In Nuneaton besuchte sie ein Zentrum für Kinder
Engagiert In Nuneaton besuchte sie ein Zentrum für Kinder
 ?? ?? Strahlend
Prinz William mit seiner Ehefrau und den gemeinsame­n Kindern Prinz
George, Prinzessin Charlotte und Prinz Louis in der Grafschaft Norfolk
Strahlend Prinz William mit seiner Ehefrau und den gemeinsame­n Kindern Prinz George, Prinzessin Charlotte und Prinz Louis in der Grafschaft Norfolk

Newspapers in German

Newspapers from Germany