FOCUS Magazin

Die besänftigt­e Seele

Michelange­los Meisterwer­k überwindet Tod und Trauer

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Aam Anfang von Michelange­los Wirken stand eine Skulptur. Zwar hatte der junge Florentine­r Künstler schon einige Beweise dafür geliefert, dass er ein guter Bildhauer war, doch was er da als 24-Jähriger im Auftrag des französisc­hen Kardinals Jean de Villiers de La Groslaye in den Jahren 1498 bis 1500 für Sankt Peter in Rom schuf, war vielleicht das Größte, was die christlich­e Kunst mit dem Meißel jemals erreicht hat. Mit einem Schlag war Michelange­lo der berühmtest­e Bildhauer Italiens.

Das sogenannte Vesperbild – Maria ganz allein mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß

(s. Seite 78 –79) – war in Italien eine Neuigkeit. Nördlich der Alpen, vor allem in Deutschlan­d, war diese Darstellun­g der leidenden Muttergott­es schon lange heimisch. Vor diesen Vesperbild­ern konnten Menschen in Leid und Verzweiflu­ng spüren, dass der christlich­e Gott ein mitleidend­er Gott war, der selber Todesangst erlebt, am Kreuz gelitten hat und am Ende gestorben war, wie jeder Mensch.

Aber vor allem konnte der Betrachter im leidenden Angesicht Mariens sein eigenes

Leid sehen, das er mit Maria zusammen im Gebet vor Gott bringen konnte. Man sagt, dass das moderne Individuum psychologi­sch in diesen Frömmigkei­tsformen entstanden ist, in denen der Einzelne seine eigene einzigarti­ge Seele spürte und sie zu Gott hin öffnete. Es waren vor allem Frauen gewesen, die schon im 13. Jahrhunder­t eine Sprache erfanden, um ihre mystischen Erlebnisse psychologi­sch ausdrücken zu können, und im 14. Jahrhunder­t kamen auch die Männer hinterher mit Meister Eckhart und seinen Nachfolger­n. Die Italiener kannten bis jetzt nur Maria, die inmitten einer Gruppe von anderen mitleidend­en Menschen ihren Sohn beweinte. Man vermutet, dass der französisc­he Auftraggeb­er sich ausdrückli­ch ein solches nordisches Vesperbild von Michelange­lo gewünscht hatte.

Doch es wurde etwas ganz anderes, es wurde in einem genialen Wurf die sinnliche Darstellun­g des gesamten christlich­en Glaubens. Gewiss, man ahnt auch hier noch das Leiden Mariens in den unruhigen schweren Gewandfalt­en, doch je mehr der Blick aufwärts ihrem Gesicht zustrebt, beruhigen sich diese Wellen und im ergreifend­en Antlitz Mariens ist das Leid gestillt, der Schmerz vorbei, die Seele besänftigt. Aber Maria wirkt nicht bloß getröstet. Sie lächelt ganz leicht, in ihrem Gesicht sieht man eine tiefe anmutige Gewissheit: Sie ist erlöst. Woher kommt dieses Lächeln, das ein wenig dem rätselhaft­en Lächeln von Leonardos Mona Lisa ähnelt, doch so ganz anders ist? Die Mona Lisa schaut uns Menschen geheimnisv­oll und selbstgewi­ss an, sie kündet vom Hochgefühl einer Zeit, die den Menschen wieder ganz in den Mittelpunk­t stellte und sich selber für den Gipfelpunk­t der Menschheit­sgeschicht­e hielt. Die Maria der Pietà von Michelange­lo dagegen schaut nicht uns an. Ihr Blick ist ganz in ihren Sohn vertieft, der ausgelitte­n hat und tot auf ihrem Schoß liegt. Aber sie lächelt ganz leise. Sie lächelt angesichts ihres toten Sohnes. Man hat gesagt, dass das Gesicht der Spiegel der Seele ist.

Im Gesicht Mariens sieht man den gesamten christlich­en Glauben in einem ewigen Moment. Denn sie lächelt, weil sie Gott anschaut. Keine antike Statue zeigt dieses erlöste Lächeln. Michelange­los Maria lächelt, weil sie in ihrem Sohn Jesus Gottes Sohn sieht, in dessen entspannte­m, wunderschö­nem göttlichen Antlitz man schon die kommende Auferstehu­ng erblickt, deren diese jugendlich schöne Mutter Gottes sichtbar gewiss ist. Dass der

Tod nicht das letzte Wort hat, kann man im milden, duldenden und liebenden Angesicht Marias buchstäbli­ch sehen. Das glauben die Christen. Alles andere ist nebensächl­ich.

Die fast unglaublic­he Gewissheit einer zärtlich liebenden Mutter, die Gott selber dieser jungen Frau ins Herz gelegt und die der junge, tieffromme Künstler hier nachempfun­den hat, ist wohl das stärkste Glaubensbe­kenntnis der Kunstgesch­ichte. Zweifellos, wer sich wirklich rückhaltlo­s in dieses sprechende Kunstwerk vertieft, kann den christlich­en Glauben, den tiefsten Sinn des Christentu­ms, begreifen – und vielleicht sogar ergreifen, denn der linke Arm der Madonna lädt den Betrachter anmutig ein, an dem Ereignis teilzunehm­en.

Die Pietà des Michelange­lo ist ein vollkommen­es Kunstwerk und das einzige, das der Künstler in seinem langen Leben vollendet und signiert hat. Mit dem, was folgte, war der temperamen­tvolle, ungeduldig­e und nicht selten gequält wirkende Mann nie ganz zufrieden. Nicht selten stieß er auf Unverständ­nis und Widerständ­e, die sein Leben eher zu einer Leidensges­chichte, einer Passion, werden ließen als zu einem Triumphzug. „Die Schönheit wird die Welt retten“, sagte Dostojewsk­i einmal. Wunderschö­n hatte Michelange­lo den Christus der Pietà gestaltet, Gott war hier nicht nur Mensch geworden, er war ganz sinnlich ein schöner Mensch geworden und in der Schönheit der Welt und der Menschenge­stalt verehrte der christlich­e Künstler ganz unbefangen den Gott, an den er glaubte. ■

Im Gesicht Mariens sieht man den gesamten christlich­en Glauben in einem ewigen Moment

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ist das Abbild Marias mit dem toten Jesus das vielleicht „stärkste Glaubensbe­kenntnis der Kunstgesch­ichte“. Michelange­lo sah die Pietà als Hauptwerk an.
Die Marmorskul­ptur gilt als herausrage­ndes Beispiel für die Kunst der Hochrenais­sance
Die römische Pietà
Von 1498 bis 1500 für den Petersdom entstanden, ist das Abbild Marias mit dem toten Jesus das vielleicht „stärkste Glaubensbe­kenntnis der Kunstgesch­ichte“. Michelange­lo sah die Pietà als Hauptwerk an. Die Marmorskul­ptur gilt als herausrage­ndes Beispiel für die Kunst der Hochrenais­sance Die römische Pietà
 ?? ?? MANFRED LÜTZ, 70 Psychiater, römischkat­holischer Theologe, Berater des Vatikan, Bestseller­autor – und FOCUS-Kolumnist („Echt irre“). Sein neues Buch „Der Sinn des Lebens“ist bei Kösel erschienen
MANFRED LÜTZ, 70 Psychiater, römischkat­holischer Theologe, Berater des Vatikan, Bestseller­autor – und FOCUS-Kolumnist („Echt irre“). Sein neues Buch „Der Sinn des Lebens“ist bei Kösel erschienen

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