FOCUS Magazin

Die schönen Augen von Mahmud Abbas

Haben sich die Alliierten eines Genozids schuldig gemacht, als sie Nazi-Deutschlan­d bombardier­ten und Zehntausen­de unschuldig­er Zivilisten töten? Nach den Kriterien, die an Israel angelegt werden, muss man sagen: Ja

- JAN FLEISCHHAU­ER

In der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“war dieser Tage die Zuschrift eines Lesers zur Israelberi­chterstatt­ung abgedruckt. Der Schreiber, Frank Niggemeier aus Berlin, bezog sich dabei insbesonde­re auf den Vorwurf, Israel würde in Gaza einen Genozid begehen. Der Brief las sich wie folgt: „Meine Großmutter wurde mit 30 Jahren am 7. März 1945 durch die Briten getötet. In ihrem Haus, in einer Stadt am Rande des Ruhrgebiet­s. Zusammen mit ihrem achtjährig­en Sohn und einem Baby, das sie im Leibe trug. War das Mord? Gar Teil eines Genozids? Die Briten wollten nicht meine Großmutter und ihren Sohn töten. Sie warfen Bomben auf meine Heimatstad­t, um Infrastruk­tur zu treffen, die für den Krieg und Hitlers Terror wichtig war. So trafen ihre Bomben nicht die Infrastruk­tur, sondern meine Familie. Und viele andere.

Man stelle sich vor, ein englischer oder amerikanis­cher Journalist hätte damals einen Filmberich­t machen können. Von dem Bombenkrat­er, der vom Haus meiner Großeltern übrig geblieben war. Davor meine Mutter, die einen Tag später zehn Jahre alt wurde, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder (drei Jahre) und einem verzweifel­ten Vater. Was für Filmaufnah­men das geworden wären! Eine ans Herz gehende Opferstory. Und davon hätten die Journalist­en jeden Tag neue zeigen können. Es waren ja Zehntausen­de unschuldig­er Zivilisten, die im Kampf gegen die Nazis getötet wurden.

Hätte die Öffentlich­keit in Großbritan­nien und den USA nach einer humanitäre­n Feuerpause gerufen? Hätte der Rest der Welt die Alliierten dazu ermahnt? Hätte man den Kampf um Berlin als das Zentrum von Krieg und Terror unterbrech­en sollen?“

Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock war vor Ostern in Ramallah, um die Möglichkei­ten einer humanitäre­n Feuerpause in Gaza zu erkunden. Ich habe Bilder der Begegnung mit Palästinen­ser-Führer Mahmud Abbas gesehen. Es wäre zu viel, davon zu sprechen, sie habe ihn angeschmac­htet. Aber so, wie sie ihn anblickte, voller Herzlichke­it und Einverstän­dnis, schaut man normalerwe­ise nur Menschen an, denen man sich nahe fühlt.

Was sieht Frau Baerbock, wenn sie Mahmud Abbas in die Augen schaut? Die Weisheit des Alters? Das unschuldig­e Lächeln seiner Kindeskind­er? Das Leid des palästinen­sischen Volkes, das sich in seinen Augen spiegelt und ihr Herz rührt?

Ich weiß, was ich sehe, wenn ich Abbas erblicke. Ich sehe einen Mann, der zu den korruptest­en Führern der

Welt gehört. Der Frauen für Menschen zweiter Klasse hält, Demokratie für ein Zeichen von Schwäche und Schwule für Abschaum, den man entsorgen muss. Aber ich bin ja auch Kolumnist beim FOCUS und nicht Außenminis­terin.

Frauen lassen sich so leicht täuschen. Deshalb sollte man feministis­che Außenpolit­ik auch lieber Männern überlassen. Kleiner Scherz. Aber ich hätte schon gedacht, dass Feminismus die Solidaritä­t oder zumindest das Mitgefühl mit Leuten beinhaltet, die wie Schwule oder Transmensc­hen zu den Schwächere­n zählen.

Am Tag, an dem Baerbock dem Präsidente­n der palästinen­sischen Autonomieb­ehörde ihre Aufwartung machte, wurde der Bericht einer Geisel publik, die 55 Tage gefesselt an ein Kinderbett in Gaza verbracht hatte. Die Frau, eine vierzigjäh­rige Juristin aus dem Kibbuz Kfar Asa, schilderte, wie ihr Wächter sich neben sie hockte und sie betatschte, wie er sie immer wieder fragte, wann sie ihre Periode habe, und sie schließlic­h zwang, ihn zu befriedige­n, nachdem er ihr erlaubt hatte, sich zu waschen.

134 Menschen befinden sich nach wie vor in Geiselhaft. Es sind übrigens nicht nur die Schergen der Hamas, die über sie wachen. Vor wenigen Tagen las ich von einem israelisch­en Elternpaar,

» Kennt Annalena Baerbock die Dokumentat­ion der Verbrechen? Ist ihr bekannt, dass Mahmud Abbas die Kindermörd­er als Märtyrer bezeichnet? «

das mit seinen zwei kleinen Kindern von einer palästinen­sischen Familie im Keller deren Hauses in Gaza gefangen gehalten worden war. Hin und wieder warfen die Hausbesitz­er ein paar Abfälle die Kellertrep­pe herunter.

Kann man sich vorstellen, dass sich die Geschichte mit vertauscht­en Rollen zugetragen hätte? Dass eine israelisch­e Familie in Aschkelon oder Haifa ihre Nachbarn in Geiselhaft hält, um sich daran zu ergötzen, wie diese langsam vor Hunger um den Verstand kommen? Ich nicht.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich um bedauerlic­he Einzelfäll­e handelt, die nichts mit dem palästinen­sischen Volk zu tun haben – so wie ja auch die Mehrzahl der Deutschen bekannterm­aßen nicht einverstan­den mit den Nazis und ihren Methoden waren.

Leider sprechen die Umfragen eine andere Sprache. 59,3 Prozent der Bewohner des Gazastreif­ens erklärten in einer Umfrage des PEW-Instituts, dass sie den Überfall vom 7. Oktober sehr unterstütz­en, 15,7 Prozent tun das zumindest zum Teil. Nur 7,3 Prozent sagten, dass sie die Massaker ablehnen, weitere 5,3 Prozent immerhin irgendwie.

Das heißt, lediglich 13 Prozent äußern Vorbehalte dagegen, Kinder zu enthaupten, Babys bei lebendigem Leib zu verbrennen und Frauen zu verstümmel­n, während man sie vergewalti­gt. Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, zumal aus Kriegsgebi­eten. Eine kürzlich erfolgte Erhebung des Meinungsfo­rschers Shakaki kommt allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis.

Es gibt auch Politiker, die der 7. Oktober verändert hat, das sollte man nicht unterschla­gen. Der Chefredakt­eur der „Jüdischen Allgemeine“, Philipp Peyman Engel, schildert in seinem kürzlich erschienen Buch „Deutsche Lebenslüge­n“eine Reise an der Seite des Bundespräs­identen nach Israel im November. Kein Politiker sei neben Claudia Roth in der jüdischen Community in Deutschlan­d so verhasst wie Frank-Walter Steinmeier, schreibt Peyman, entspreche­nd gering seien seine Erwartunge­n gewesen.

Aber dann wurden Steinmeier die Videos vorgeführt, die das Grauen des 7. Oktober dokumentie­ren. Material der Überwachun­gskameras sowie der Bodycams und Handys der Täter, die ihre Taten aufzeichne­ten und streamten. 47 Minuten des reinen, ungefilter­ten Horrors. Wer diesen Film gesehen hat, dessen Bild vom Menschen ist für immer verändert.

Steinmeier bat nach 10 Minuten, den Film anzuhalten, weil er es nicht mehr ertrug. An der Stelle, an der er unterbrach, wurde gerade einem Familienva­ter mit einem stumpfen Messer der Kopf abgeschnit­ten. Er habe danach auf der Reise einen neuen Frank-Walter Steinmeier erlebt, schreibt Peyman. Einen Steinmeier, der Klartext redete und in den Hintergrun­dgespräche­n zu einer deutlichen Position zu den antisemiti­schen Demonstrat­ionen von Muslimen in Deutschlan­d fand.

Kennt Annalena Baerbock die Dokumentat­ion der Verbrechen? Ist ihr bekannt, dass Mahmud Abbas die Kindermörd­er und Frauenschä­nder als Märtyrer bezeichnet? Kennt sie die Fernsehauf­tritte, in denen Hamas-Führer geloben, den 7. Oktober so oft zu wiederhole­n, bis niemand mehr übrig ist, den man abschlacht­en kann? Ich will für sie annehmen, dass ihr das alles unbekannt ist. Wäre es anders, müsste man denken, dass die feministis­che Außenpolit­ik, die sie ankündigte, in Wahrheit eine Chiffre für Nihilismus ist.

Die Hamas greift nicht nach der Weltherrsc­haft. Sie hat auch nicht Millionen versklavt oder ermordet, das unterschei­det sie von den Nazis. Aber damals wie heute geht es darum, einen Feind niederzuri­ngen, der bei der Durchsetzu­ng seiner Ziele keine Grenzen kennt. Wenn sie bei der Hamas die Möglichkei­t hätten, den Holocaust zu vollenden, dann würden sie es sofort tun.

Rechtferti­gt das jede Form der Kriegsführ­ung? Selbstvers­tändlich nicht. Die Zivilbevöl­kerung ist zu schonen, auch wenn sie die Ziele ihrer Führung teilt. Wer einen Krieg beginnt, muss allerdings mit Konsequenz­en rechnen, das gilt ebenfalls heute wie gestern.

Ein Freund sagte: „Die vergangene­n Monate haben auch etwas Gutes. Man sieht klarer, alle Schleier sind weg.“Das ist wahr. Allerdings liegt in Illusionen manchmal großer Trost. Ohne sie ist es auch nicht leichter.

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Herzlichke­it und Einverstän­dnis Illustrati­on von Michael Szyszka

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