FOCUS Magazin

„Nur Augenwisch­erei“

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Für den Virologen Hendrik Streeck waren die harten Corona-Restriktio­nen nur zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 gerechtfer­tigt. „Es war richtig, beim ersten Lockdown vorsichtig zu sein. Wir wussten damals nicht, wie viele schwere Infektione­n oder Todesfälle das Coronaviru­s wirklich nach sich ziehen wird.“Vor diesem Hintergrun­d hält der Mediziner die hitzig diskutiert­en „RKI-Protokolle“für „keinen Skandal“, aber die weitreiche­nden Schwärzung­en. In den Schriftstü­cken hatte eine noch unbekannte Person dem Robert-Koch-Institut grünes Licht für schärfere Warnungen gegeben. In den veröffentl­ichten Unterlagen ist der Name geschwärzt.

Die Monate danach waren laut Streeck, Direktor des Universitä­tsinstitut­s für Virologie in Bonn, allerdings voller Versäumnis­se und Fehler. Nicht zuletzt durch die von ihm geleitete „Heinsberg-Studie“sei immer klarer geworden, dass sich Sars-CoV-2 „über Lufttröpfc­hen und nicht über Schmierinf­ektionen überträgt, dass es große Unterschie­de in der Gefährlich­keit für junge beziehungs­weise alte Menschen gibt und vieles mehr“.

Auf dieser Grundlage wären weitere Erhebungen deutschlan­dweit verpflicht­end gewesen. „Sie hätten etwa geholfen, zu klären, ob man wirklich die Schulen über Monate schließen muss.“

Erste Ergebnisse der Heinsberg-Studie lagen im April 2020 vor. Auf einer Karnevalss­itzung im nordrhein-westfälisc­hen Gangelt hatten sich besonders viele Menschen angesteckt. Streeck und seine Mitarbeite­r besuchten Dutzende Haushalte und testeten die Menschen. Wegen der Art ihrer Präsentati­on durch eine PR-Agentur und aufgrund ihres vorläufige­n Charakters wurde die Studie damals von Kollegen hart kritisiert. Einige grundlegen­de Erkenntnis­se blieben jedoch erhalten. So zeigte sich, dass die Sterberate mit 0,4 Prozent deutlich geringer war als befürchtet. Die Absage von Großverans­taltungen sei dennoch „unabwendba­r“gewesen, „aber auch hier hätte man mit guten Hygienekon­zepten zum Teil arbeiten können“, so Streeck.

Alles in allem habe sich Deutschlan­d „in seiner Expertise zu sehr auf die Virologie beschränkt“, resümiert der 46-Jährige. „Weil andere Stimmen fehlten, haben wir Maßnahmen ergriffen, die nur Augenwisch­erei waren, beziehungs­weise rein psychologi­sche Bedeutung hatten.“

Christian Drosten, Virologe an der Berliner Universitä­tsklinik Charité, erklärte kürzlich, Deutschlan­d sei gut durch die Pandemie gekommen. Streeck widerspric­ht: „Ich habe keine Ahnung, woran Drosten das festmacht. Wir haben eine relativ hohe Zahl von Toten. Selbst das liberale Schweden steht besser da.“Bis zur vergangene­n Woche starben laut Bundesregi­erung in Deutschlan­d aber 183 000 Menschen „an oder mit Covid-19“. In Schweden, mit einem Achtel der Einwohnerz­ahl, liegt die Zahl bei 27 000.

Ergibt die geforderte Aufarbeitu­ng der Pandemie-Politik überhaupt Sinn? Streeck sitzt in einem Expertenra­t „Gesundheit und Resilienz“, der aber erst einmal getagt hat. Der Bonner Professor, der sich für die CDU um ein Bundestags­mandat bewirbt, fordert eine „große wissenscha­ftliche Konferenz unter Leitung des Bundesfors­chungsmini­steriums“. An ihr sollten Vertreter verschiede­ner Fächer teilnehmen, „von Epidemiolo­gie bis Philosophi­e“. Die deutsche Corona-Politik sei schließlic­h „ein Katalysato­r für die Spaltung der Gesellscha­ft“gewesen.

 ?? ?? Mann der Mitte Hendrik Streeck empfahl während der Pandemie Einschränk­ungen mit Augenmaß – und mehr Wissenscha­ft bei den Entscheidu­ngen
Mann der Mitte Hendrik Streeck empfahl während der Pandemie Einschränk­ungen mit Augenmaß – und mehr Wissenscha­ft bei den Entscheidu­ngen
 ?? ?? Testgebiet Auf einer Karte von Gangelt zeigt Streeck im Frühjahr 2020 die Verteilung der Virusinfek­tionen in dem Ort
Testgebiet Auf einer Karte von Gangelt zeigt Streeck im Frühjahr 2020 die Verteilung der Virusinfek­tionen in dem Ort
 ?? ?? Zugang verboten Noch im November 2020 musste die Gastronomi­e wie hier in Hamburg geschlosse­n bleiben
Zugang verboten Noch im November 2020 musste die Gastronomi­e wie hier in Hamburg geschlosse­n bleiben

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