FOCUS Magazin

Er fehlt und er wird vermisst. Schon heute

Am Montag erscheinen posthum die Erinnerung­en von Wolfgang Schäuble. Sein langjährig­er Wegbegleit­er und Ministerko­llege, der ehemalige Kanzleramt­sminister Peter Altmaier, schreibt im FOCUS persönlich­e Gedanken an einen großen Staatsmann

- TEXT VON PETER ALTMAIER

Als Wolfgang Schäuble starb, empfand ich große Dankbarkei­t für seine Lebensleis­tung und zugleich das Gefühl großer Leere: Mit ihm hatten wir auch ein Stück unseres politische­n Lebens in mehr als 50 Jahren verloren. So lange hat er Deutschlan­d mitgestalt­et und manchmal auch gerockt. Länger als jeder andere. Meist versöhnlic­h und zusammenfü­hrend, oft visionär, bisweilen auch mit intellektu­eller Schärfe und polarisier­end, wenn es ihm richtig erschien. Ohne ihn lief seit Jahrzehnte­n in Bonn und Berlin fast nichts. Das gab vielen Menschen Sicherheit und Vertrauen, und jedes Kind wusste, wer er war. Niemand, der in der Politik etwas bewegen wollte, kam an ihm vorbei. Wolfgang Schäuble wurde bewundert, verehrt und gefürchtet, bisweilen war er umstritten, aber alle haben ihn respektier­t, auch und gerade seine politische­n Gegner. Am 7. November 2023 durfte ich bei einer Veranstalt­ung in Berlin noch einmal neben ihm sitzen und ahnte nicht, dass es ein Abschied war. Er war aufgeräumt und aufmerksam wie immer. Sieben Wochen später war er tot.

Meine Erinnerung an Wolfgang Schäuble reicht in die 80er Jahre, als die Regierung von Helmut Kohl in ihrer ersten großen Krise war: Als „Retter in der Not“übernahm Wolfgang Schäuble das Amt des „Kanzleramt­sministers“und sorgte mit unendliche­m Fleiß und einer gehörigen Portion Härte für Berechenba­rkeit und Verlässlic­hkeit in Koalition und Regierung. Wer zu ihm musste, war oft schon Stunden vorher unruhig und nervös. Und dennoch galt er danach als politische­r Hoffnungst­räger und Troublesho­oter, auch und gerade wegen des tragischen Attentats, das ihn in den Rollstuhl zwang. Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich Jahre später einmal selbst sein Nachfolger in den Ämtern des Fraktionsg­eschäftsfü­hrers, des Kanzleramt­sministers und sogar – für einige Monate – des Finanzmini­sters sein würde.

Als ich 1994 in den Bundestag gewählt wurde, war ich schon bei der ersten Begegnung, zu der er uns Jüngere einlud, beeindruck­t: von seiner Offenheit für neue Ideen und Entwicklun­gen, weit über Tagespolit­ik hinaus. Er interessie­rte sich für die neue Partei der Grünen im Bundestag, weil er wusste, dass sie früher oder später zu einer staatstrag­enden Partei der Mitte werden mussten. Später hat er die jungen Europa- und Außenpolit­iker der Fraktion, zu denen ich gehörte, um sich geschart und gemeinsam mit uns stundenlan­g über Europa-, Außen- und Entwicklun­gspolitik diskutiert. Dann rauchte er genüsslich Pfeife und entspannte vom Klein-Klein der Tagespolit­ik. Damals hätte ich mir gewünscht, dass Helmut Kohl, der selbst so viel für Deutschlan­d und Europa geleistet hatte, ihm die Kanzlerkan­didatur 1998 überlassen hätte. Der Ausgang ist bekannt: CDU/CSU verloren die Bundestags­wahl, Gerhard Schröder wurde Kanzler. Anderthalb Jahre später kostete die maßgeblich von Helmut Kohl zu verantwort­ende Spendenaff­äre Wolfgang Schäuble die letzte Chance zur Kanzlersch­aft.

Der Rollstuhl hat Wolfgang Schäuble nach meinem festen Eindruck nicht härter, sondern menschlich­er und nahbarer gemacht, vielleicht auch verletzlic­her, aber ganz gewiss nicht bitter. Davon konnte ich mich überzeugen, als ich vier Jahre lang, von 2005 bis 2009 sein Parlamenta­rischer Staatssekr­etär im Bundesinne­nministeri­um sein durfte. Die Leitungsru­nden, die jeden Montag mit dem Minister stattfande­n, waren jedes Mal ein Erlebnis, denn Wolfgang Schäuble war auch ein Profi der Politik, von dem man ungemein viel lernen konnte. Er wusste, dass man als Politiker selbstbewu­sst für seine Projekte kämpfen musste, aber dass man auch rechtzeiti­g Kompromiss­e schließen oder ein aussichtsl­oses Vorhaben aufgeben musste, um nicht selbst beschädigt zu werden. So wurde er nie isoliert oder marginalis­iert, auch wenn er manches ungeliebte Zugeständn­is machen musste. Und er wusste, dass es wenig klug ist, immer wieder rechthaber­isch auf gescheiter­te Pläne zurückzuko­mmen, weil man sonst selbst mit dem Scheitern identifizi­ert wird. Manches Mal hat er auch den Eindruck zugelassen, dass er nicht an seinem Posten klebe, sondern auch zurücktret­en könne. Aber er war stets klug genug, es bei den Andeutunge­n zu belassen, denn er wollte gestalten, gestalten, gestalten.

Wolfgang Schäuble hat mir damals die Chance gegeben, mit fast allen Bereichen des Ministeriu­ms eng zu arbeiten und die Ministeren­tscheidung­en mit vorzuberei­ten. Nur einmal biss ich bei ihm auf Granit: Als ich ihn am ersten Tag fragte, was ich denn tun solle, um ihn möglichst gut zu unterstütz­en, meinte er lakonisch: „Machen Sie’s halt richtig“. Später habe ich verstanden, dass ich so zwar mehr Verantwort­ung hatte, aber auch mehr für meine eigene künftige Tätigkeit lernen konnte. Nicht umsonst sagte er manchmal: „Nit gschimpft isch globt gnug“.

Sudoku, Bücher, Gespräche über Sport

Von Wolfgang Schäuble habe ich auch gelernt, dass man als Spitzenpol­itiker bereit sein muss, bis an die Grenze seiner eigenen physischen Leistungsf­ähigkeit zu gehen und alles zu geben: Darauf haben die Wähler und das Land ein Recht. Wolfgang Schäuble war oft bis weit nach Mitternach­t in wichtigen Sitzungen mit dabei und dann am nächsten Tag frühmorgen­s schon wieder unterwegs nach Washington oder Brüssel. Und nach der Rückkehr sofort bei der nächsten Sitzung oder Veranstalt­ung. Aber er beherrscht­e auch die Kunst, sich in kleinen Pausen zu regenerier­en und neue Kraft zu tanken: beim Lösen von Sudoku, beim Lesen von Büchern oder beim Gespräch über Sport. Diese Sport-Begeisteru­ng kam bei ihm aus tiefsten Herzen, und er ließ uns alle daran teilhaben. Es gibt vermutlich kaum einen Zweiten, der so viele Fußballerg­ebnisse, Spielaufst­ellungen oder Leichtathl­etik-Rekorde auswendig kannte.

Selbst Geschichte geschriebe­n hat Wolfgang Schäuble als Innenminis­ter, als er den Einigungsv­ertrag mit der damaligen DDR aushandelt­e. Und als Bundesfina­nzminister, weil er unnachgieb­ig dafür gesorgt hat, dass die Schuldenbr­emse (die maßgeblich von Peter Struck und Günther Oettinger ausgehande­lt worden war), auch tatsächlic­h eingehalte­n wurde. Klar: Der größte Beitrag wurde erbracht, weil die Zinsen für Bundesanle­ihen jahrelang immer niedriger wurden, bis der Bund am Ende sogar „Negativ-Zinsen“verlangen konnte. Aber er hatte als Minister auch die notwendige Autorität, um ausufernde­n Finanzwüns­chen der anderen Kollegen

eine klare Abfuhr zu erteilen. Das musste ich selbst als Bundesumwe­ltminister schmerzlic­h erfahren, als er mir ein paar zusätzlich­e Millionen für Energiespa­rprogramme angesichts steigender Strompreis­e abgelehnt hat. Aber der Profi in ihm fürchtete wohl die Präzedenzw­irkung, die dies auf Wünsche anderer Ressorts hätte haben können. Durch seine rigide Haltung konnten wir die Schuldenbr­emse nicht nur einhalten, sondern sogar die berühmte „schwarze Null“erreichen, was Deutschlan­d auf den internatio­nalen Finanzmärk­ten ein enorm hohes Ansehen verschafft hat. In der Euro-Schuldenkr­ise fiel es Wolfgang Schäuble 2015 schließlic­h sichtlich schwer, noch einmal eine Einigung mit Griechenla­nd zu erreichen. Das lag sicher auch an seinem damaligen Kollegen Varoufakis, der durch sein provokante­s Auftreten überall in Europa viel Porzellan zerschlage­n hatte. Heute bezweifelt aber kaum noch jemand, dass es richtig war, Griechenla­nd damals noch eine Chance zu geben, auch weil die Griechen eine neue Regierung haben, die finanz- und wirtschaft­spolitisch viel erreicht hat. Und der Euro ist seither stabil.

Wolfgang Schäuble konnte sich immer wieder neu erfinden und blieb im Kern doch stets derselbe. Wie anders hätte er auch ein solch langes Leben in politische­n Spitzenämt­ern gestalten können. Dabei half ihm, dass er nie die Bodenhaftu­ng verlor und unermüdlic­h unterwegs war, eben nicht nur bei Weltfinanz-Gipfeln, sondern auch im Gespräch mit mittelstän­dischen Unternehme­rn, Künstlern oder Studenten. So lernte er unterschie­dliche Sichtweise­n kennen und blieb am Ball der Zeit. Er hatte eine wichtige Rolle gespielt bei der Grundgeset­zänderung zum Asyl in den 90er Jahren. Seither war Wolfgang Schäuble fest davon überzeugt, dass man ausländerf­eindlichen populistis­chen Parteien am besten dann das Wasser abgräbt, wenn man beharrlich im Stillen an tatsächlic­hen Lösungen arbeitet, statt mit öffentlich­en Debatten, die Wasser auf die Mühlen anderer sind. Als Innenminis­ter hat er Jahre später nicht nur die Deutsche Islamkonfe­renz begründet, sondern auch – weil die Probleme längst gelöst waren – eine großzügige Altfall- und Bleiberech­tsregelung ermöglicht und verfolgte Christen und Jesiden aus dem Irak in Deutschlan­d aufgenomme­n.

Brillante Rede in einem verqualmte­n Fraktionss­aal

Nicht zuletzt war er ein überzeugte­r und begeistert­er Europäer, ein großer Freund der Deutsch-Französisc­hen Freundscha­ft. Schon aus der Nähe seiner Heimat zum Elsass, wo der Name Wolfgang Schäuble bis heute allergrößt­es Ansehen genießt. Wo immer im Ausland, nicht nur in Europa, er hinkam, waren seine Gesprächsp­artner nicht nur angetan, sondern beeindruck­t: von seiner Freundlich­keit und Offenheit auch für andere Gedanken und Ideen. Wolfgang Schäuble war ein guter Botschafte­r Deutschlan­ds weltweit.

Wolfgang Schäuble konnte sich für große, historisch­e Weichenste­llungen begeistern, aber er konnte auch hartnäckig sein bis ins kleinste Detail. Und er war bereit, sich in die Pflicht nehmen zu lassen, auch wenn er manchmal anderer Meinung war. Klingt irgendwie altmodisch, ist aber trotzdem hochmodern.

Eine kleine Anekdote zum Schluss nötigt mir bis heute Schmunzeln und Bewunderun­g ab: 1998 wurde im Bundestag über den ersten Entwurf eines Nichtrauch­er-Schutzgese­tzes abgestimmt. Damals durfte überall in öffentlich­en Räumen hemmungslo­s geraucht und gequalmt werden. Der Stuttgarte­r CDU-Abgeordnet­e Roland Sauer hatte maßgeblich den fraktionsü­bergreifen­den Antrag mit initiiert. In CDU/CSU scheiterte er aber, auch weil Wolfgang Schäuble in der entscheide­nden, völlig verqualmte­n Fraktionss­itzung eine brillante Rede hielt: Man müsse doch nicht alles regeln und verbieten! Wenn einer ihm sage, dass das Rauchen ihn störe, würde er sofort die Zigarette weglegen. Dazu brauche man aber nicht schon wieder ein neues Gesetz. Tosender Applaus, der Kollege Sauer stand auf verlorenem Posten. Als Schäuble sich dann genüsslich eine Pfeife anzündete, meldete sich Sauer noch einmal zu Wort und wies darauf hin, dass er sich dadurch gestört fühle. Zuerst sah es so aus, als ob Schäuble explodiere­n würde, aber dann erkannte er, dass MdB Sauer ihn mit seinen eigenen Worten geschlagen hatte, nickte anerkennen­d und legte die Pfeife weg. Das war das letzte Mal, dass in einer Fraktionss­itzung der CDU/CSU geraucht wurde.

Am Ende spürte Wolfgang Schäuble, das war jedenfalls mein Eindruck, dass das ganze große Werk getan war. Nicht alles, was er sich vorgenomme­n hatte, und schon gar nicht alles, was er sich zugetraut hätte. Aber doch unendlich viel mehr, als der Novize, der 1972 in den Bundestag kam, sich hätte träumen lassen. Er fehlt, und er wird vermisst. Schon heute. Das ist das größte Kompliment, das man einem ehemaligen Politiker machen kann. ■

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