Stamm GÄSTE
Papua-Neuguinea ist ebenso sagenumwoben wie exotisch. Die Traditionen der verschiedenen Volksgruppen sind seit Jahrhunderten nahezu
unverändert. Deshalb fühlt sich eine Reise zu dem Inselstaat im Pazifik wie ein Zeitsprung in die Vergangenheit an. Michael Raffael hat ihn gewagt ...
Nördlich von Australien liegt Neuguinea, eine Insel, die auf der Karte mit etwas Fantasie wie ein exotischer Paradiesvogel aussieht. In der Mitte ist sie geteilt, wobei der westliche Teil zu Indonesien, der östliche samt den vorgelagerten Inselgruppen zu Papua-Neuguinea, dem drittgrößten Inselstaat der Welt, zählt. PNG, wie man den Staat im Pazifik in seiner Kurzform nennt, ist etwas größer als Deutschland und zieht in Sachen Exotik alle Register: palmengesäumte Strände, bunte Korallenriffe, wuchtige Mangrovenbäume, rauchende Vulkane, grüne Bergketten und dazu die mystische Dämmerung. Trotzdem wurde der Staat vom Massentourismus verschont. Traditionen, Bräuche und spirituelle Rituale sind hier noch authentisch. Die Einwohner leben ihren Alltag, von dem rein gar nichts für Reisegruppen inszeniert ist. Hotels gibt es nur wenige und meist liegen sie kilometerweit voneinander entfernt.
Auch asphaltierte Straßen sind eher rar, und die, die es gibt, sind in miserablem Zustand. Wer auf dem Highlands Highway allen Schlaglöchern ausweichen will, muss schon ein Meister im Parcours-Fahren sein. Ein dichtes Netz aus Inlandsflügen dient nicht nur dem Transport von Lebensmitteln und anderen Waren, es verbindet auch die verschiedenen ethnischen Gruppen miteinander. Ohne den Flugverkehr kämen sie sonst wohl kaum in Kontakt.
William, das Oberhaupt eines winzigen Dorfes irgendwo in den Fjorden bei Tufi, hat das Leben in der Hauptstadt Port Moresby ausprobiert. „Ich habe versucht, mich dort einzuleben, habe mir alles angesehen, aber es hat mir nicht gefallen.“Längst ist er in sein Dorf zurückgekehrt. Er weiß die traditionelle Lebensweise seines Volkes jetzt noch mehr zu schätzen und hat erkannt, wie wichtig es ist, die alten Bräuche und Riten zu bewahren.
Die sozialen Strukturen sind für Außenstehende unübersichtlich und weit verzweigt. Ein Erklärungsversuch: Jedes Mitglied eines Stammes gehört zu einem Clan, der sich wiederum in verschiedene Untergruppen und Familienkreise aufteilt. Geheiratet wird nur außerhalb des Clans – ein Gesetz, das das katholische Verbot der Verwandtenheirat fast schon primitiv wirken lässt. Diese Abgrenzung zwischen Stamm und Clan ist den Mitgliedern heilig. Wer sie überschreitet, muss mit allen Konsequenzen rechnen, im Zweifel auch mit einem Aufenthalt im Krankenhaus. Selbst jene, die es in die Stadt zieht, werfen ihre indigene Identität nicht einfach über Bord, sobald sie am Jackson Airport aus dem Flieger steigen.
Port Moresby hat dieselben Probleme wie andere Hauptstädte von Entwicklungsländern auch. Ein inoffizielles Netzwerk besteht allerdings, das dafür sorgt, dass die Mittellosen nicht verhungern: Wantok, ein Wort aus der Pidginsprache, lässt sich vom englischen one talk (zu Deutsch: eine Sprache) ableiten. Denn obwohl PapuaNeuguinea nur sieben Millionen Einwohner hat, werden über 800 Sprachen und Dialekte gesprochen – mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Trifft man hier einen Wantok, also jemanden mit der gleichen Muttersprache, kann man sicher sein, dass er vom gleichen Stamm kommt. Und dann hilft man ihm, wo und wie man nur kann. Wantoks würden sogar ihren letzten Vorrat an Betelnüssen mit Stammesverwandten teilen. Die Nüsse der
Areca-Palme kaut hier jeder. Sie sind auch Bestandteil einer leichten Droge, buai, die auf der Straße verkauft wird. Dafür werden Betelnüsse, Kalkpulver aus Muschelschalen und Senfkörner gemischt. Eine chemische Reaktion färbt die zerkaute Masse blutrot. Und weil das Kauen die Speichelproduktion anregt, spucken die Menschen überall auf die Straße. Die Weltgesundheitsorganisation warnt davor, dass die Nuss Krebs auslösen kann. Und auch der Präsident von Port Moresby ist von den blutroten Spritzern auf seinen Straßen eher wenig begeistert und bemüht sich, dem Gespucke Einhalt zu gebieten, indem er den Verkauf von buai zu verbieten versucht.
Werfen wir einen Blick auf eine 20-Kina-Banknote, so heißt die nationale Währung. Darauf sind ein Wildschweinkopf und eine opulente Muschelkette zu sehen. Das zeigt: Symbole spielen nach wie vor eine große Rolle im Leben der Papuas. In der sozialen Hierarchie stehen Schweine über Frauen und Kindern. Wer mehr als eines besitzt, gilt als reich. In Rondon Ridge, einer Lodge hoch über dem Wahgi-Valley, zeigt eine Fotografie von 1930 eine Frau, die mit ihrer linken Brust ein Baby stillt und mit der rechten ein Ferkel.
„Nur der Häuptling eines Stammes darf ein Wildschwein mit Hauern besitzen“, sagt Pamela, die Tochter eines Madang-Häuptlings. „Sobald die Eckzähne wachsen, muss man es ihm überlassen. Wer sich nicht an die Regel hält, kann sogar getötet werden.“Nur zu Hochzeiten oder Beerdigungen werden die Schweine im mumu, einer Art Steinofen, gebraten. Das Fleisch wird in Blätter gehüllt und zusammen mit Gemüse in einem Bett aus heißen Steinen geschmort. Die Männer bekommen das zarteste Fleisch und das beste Gemüse, die Frauen das, was übrig bleibt. Am wertvollsten ist der Schweinebauch, weil er die Lebenskraft symbolisiert.
Das Wahgi-Valley erstreckt sich über die Western Highlands. Die Berge hier sind bis zu 4000 Meter hoch, das Land ist fruchtbar. Ideale Bedingungen für Landwirtschaft. Taro, auch als Wasserbrotwurzel bekannt, und die Sagopalme zählen wegen ihres hohen Stärkeanteils zu den Grundnahrungsmitteln. Dazwischen wachsen Süßkartoffeln in allen erdenklichen Farben, Größen und Formen. Manche haben eine rote Schale und orangefarbenes Fleisch, andere sind weiß gesprenkelt, gelb oder lilafarben. Auf dem Markt in Mount Hagen stapeln die Verkäufer die Knollen zu Pyramiden und bespritzen sie mit Wasser, damit sie glänzen. Verkauft werden sie dann nicht nach Gewicht, sondern stapelweise.
„Die 20-Kina-Banknote zieren ein Wildschweinkopf und eine Muschelkette. Symbole spielen hier eine große Rolle“
Abgesehen von den zahlreichen Mythen, die sich immer noch um die ehemals kannibalischen Einwohner ranken, ernähren sich die Papuas hauptsächlich von Gemüse. Was Frische und Geschmack angeht, macht dem Inselstaat so schnell keiner etwas vor. Auf den Märkten riecht man die Erdbeeren schon von Weitem, die Händler binden Knoblauchknollen zu kleinen Sträußen und garnieren ihre Gurken mit Salzflocken und Ingwer. Entlang der Küste dreht sich alles um Kokosnussmilch. In Tanaka, einem Ort nahe Rabaul, zeigt eine Großmutter ihren vier Enkeltöchtern, wie man haigir zubereitet. Auf einem Hocker sitzend kaut sie Betelnüsse und reibt Kokosnüsse zu dünnen Raspeln. Die Schalen wirft sie in die Feuerstelle, in der die Mädchen Steine aufheizen. Dann legt sie mehrere Lagen Bananenblätter übereinander und bettet Kräuter, Gemüse sowie Pilze darauf. Mit etwas Wasser verreibt sie die Kokosflocken und presst Milch heraus, die sie über das Gemüse gibt. Zum Schluss kommen ein halbes Hühnchen, Gewürze und die heißen Steine oben drauf. Eine halbe Stunde später wird das fertige haigir serviert.
In Williams Dorf wird sago produziert. „Das war unsere einzige essbare Reserve, als andere Stämme unser Dorf überfielen und das Gemüse klauten“, erzählt er. Das klebrige, stärkehaltige Mark wird aus der Sagopalme gewonnen. Es wird zweimal gebacken, dann gepellt und eingelagert. Früher war es lebensnotwendig. „Heute backe ich daraus köstliches Bananenbrot“, sagt er.
Restaurants im klassischen Sinne kennen die meisten Papuas nicht. Die kaibar kommt dem aber wohl am nächsten: Diese Imbissbuden bieten nur eine kleine Auswahl an Speisen wie Hühnchenoder Schweinefleisch und Pommes an, verkaufen sie aber zu horrenden Preisen. Daher setzen die meisten Einwohner lieber auf eine altbekannte Methode: die Jagd. In den Dörfern bauen die Männer Fallen, um Vögel einzufangen. Sie fangen junge Kasuare, das sind Laufvögel, füttern sie und halten sie in
„Sie reibt die Kokosnuss zu dünnen Raspeln und wirft die Schalen ins Feuer, wo die Mädchen die Steine erhitzen“
Käfigen, bis sie groß sind. Auch Rehe, Flughunde und Kängurus landen in den Töpfen. Kaum ein Tier ist vor ihnen sicher.
Auf ihre Rituale und mystischen Tänze bereiten sich die Männer oft monatelang vor, wobei dem sogenannten Spirit House eine besondere Bedeutung dabei zukommt: ein geheimer Ort, an dem die Männer unter sich sind. Jeder Stamm und jeder Clan hat ein Spirit House. Hier praktizieren sie die schmerzvollen Initiationsriten, machen Jungs zu Männern. Während dieser Zeit ist jeder Kontakt zum anderen Geschlecht streng untersagt. Schon die Erwähnung eines Frauennamens soll Unglück bringen. Nicholas Wama, ein katholischer Pastor aus Kaip, hat vier Söhne. Einer will Anwalt werden, zwei Ingenieure und einer Pilot. Wama will, dass sie den besonderen Zusammenhalt und das enge Miteinander im Spirit House erleben. „Wir müssen unsere Traditionen fortführen, sonst werden sie bald aussterben“, sagt er ernst. Häuptling William blickt gelassen in die Zukunft. Auch die Touristen in seinem Dorf heißt er willkommen, immerhin bringen sie seinem Ort ein bisschen Geld ein. Außerdem sind es nur wenige, und oft liegen Wochen zwischen den Besuchen. Wenn der 80-jährige Terima ein paar Dörfer weiter mit all seinem Schmuck und all seinen Frauen für ein Foto posiert, wird einem dann aber doch etwas mulmig. Er wedelt dabei nämlich stolz mit einem Speer, das aus menschlichem Schienbein ist.
In der Nähe von Kokopo paddelt eine Frau im Kanu am Rande eines Riffs entlang. Im Boot liegt eine Handvoll
schillernde Meeräschen. Ein paar Kilometer weiter draußen hat ein rostiges, koreanisches Fabrikschiff seinen Anker geworfen. Dort wird gerade ein gigantischer Fang Gelbflossen-Thunfisch verarbeitet und für die Weiterfracht verpackt. In Tufi hingegen, wo kleine Angelboote auf dem glasklaren Meer dümpeln, sieht man nicht einen einzigen Fischdampfer am Horizont. Die Einwohner angeln hier nur, was auch tatsächlich gebraucht wird. Für die Langusten etwa, die sie auf Anfrage fangfrisch in das Tauch-Resort eines Australiers liefern, würden Feinschmecker in anderen Teilen der Welt vermutlich ein kleines Vermögen hinblättern.
Auf der Veranda des Tufi-Resorts haben sich ein paar besonders hartgesottene, australische Auswanderer, die seit vielen Jahren hier leben, zusammengefunden. Nach ein paar Flaschen Bier der heimischen South Pacific Brewery bekommt man unzählige Gründe dafür genannt, warum es den internationalen Jetset noch nicht nach Papua-Neuguinea verschlagen hat. Port Moresby ist eine der gefährlichsten Hauptstädte der Welt, erzählen sie. Jeder kann von Überfällen berichten, einer erinnert sich sogar an einen Piloten, der auf offener Straße erschossen wurde. Trotzdem: Zurück nach Australien will keiner von ihnen. Sie lieben die Tatsache, dass Papua-Neuguinea so berühmt-berüchtigt ist. Und sie haben recht: Es gibt wohl kaum einen Ort, der so authentisch und rau ist. Aber auch das Lächeln und das unbefangene Hallo, das die Papuas Fremden entgegenbringen, findet man sonst nur noch selten.
Michael Raffael und Gary Latham reisten mit Unterstützung der Papua New Guinea Tourism Promotion Authority. papuanewguinea.travel