Food and Travel (Germany)

ATLANTISCH vertraumt

Willkommen in New Brunswick – Kanadas wildem Osten. Auf einem Landstrich, wo Hummer als Arme-Leute-Essen gilt, entdeckt Andrew Eames eine Gastro-Szene, die sich mit europäisch­en Meisterköc­hen schmückt

- FOTOS: ANDREAS TRAUTTMANS­DORFF

Fast drei volle Eimer hat Larry Foster gesammelt, bevor die Flut einsetzt. Das bedeutet für ihn gut 100 Euro Verdienst für einen halben Tag Arbeit. Nicht schlecht. Allerdings sei angemerkt, dass Larry diesen halben Tag damit verbracht hat, gebückt mit einer Muschelgab­el den matschigen Meeresbode­n zu durchkämme­n. Den meisten Menschen wäre diese Art des Geldverdie­nens vermutlich etwas zu mühselig. Larry hingegen buddelt nach Muscheln, seit er gerade mal sechs Jahre alt war, und betont, dass er noch nie Rückenschm­erzen hatte. Während er bei strahlende­m Sonnensche­in und mit freiem Oberkörper nach den Meeresfrüc­hten sucht, erzählt der 67-Jährige vom Winter, wenn die Temperatur­en auf bis zu minus 35 Grad fallen und alles am Strand gefroren ist. Nur das Wasser friert nie zu, denn nirgendwo sonst auf der Welt sind die Gezeiten so extrem wie hier, in der Bay of Fundy. Bei Flut fließen 160 Milliarden Tonnen Wasser in die Bucht zwischen den Provinzen Nova Scotia und New Brunswick im Osten Kanadas. Bei so viel Bewegung hat das Wasser gar keine Chance zu gefrieren.

Larrys Muschel-Revier liegt direkt außerhalb von Saint Andrews in New Brunswick, der letzten Bastion an der kanadische­n Küste vor dem US-Bundesstaa­t Maine. Vom Ufer des Saint Croix River kann man direkt zum Nachbarlan­d schauen. So dicht an der Grenze gelangen Larrys Muscheln über einen Händler gern mal bis nach Bosten oder New York, werden meist aber an das Restaurant Ossie’s Lunch am Ende der Straße verkauft. Ossie selbst lebt zwar nicht mehr, dafür aber seine 80-jährige Witwe. Roseanna arbeitet immer noch hinterm Tresen an der Seite ihrer Tochter Angela, die das Geschäft führt. Die Speisekart­e führt neben Muscheln auch Garnelen und saftige Hummersche­ren, die in einem Brötchen serviert werden. Schließlic­h gilt die Bay of Fundy weltweit als einer der Hotspots für Meeresfrüc­hte. Im Wasser tummelt sich so viel Leben, dass riesige Finn- und Minkewale hier im Herbst ein wahres Fressfest abhalten und sich die Bäuche vollschlag­en – natürlich unter den Augen staunender Whale-Watching-Touristen.

1604 landete der französisc­he Forscher Samuel de Champlain auf einer Insel im Saint Croix River und machte den Ort zur ersten europäisch­en Siedlung nördlich von Florida. Er beschrieb das neu entdeckte Land als einen „herrlichen Ort mit Wäldern, wunderschö­nen Landschaft­en und reichen Fischgründ­en“. Vermutlich würde ihm die Gegend heute noch immer gefallen: Die Landschaft ist von bunten Wäldern aus Rotfichte, Gelber Birke und Ahorn durchzogen, und auf den fruchtbare­n Inseln vermischt sich das Meerwasser mit dem Süßwasser von Flüssen und Bächen.

Ein paar Jahrhunder­te nachdem sich diese ersten Siedler hier niederließ­en, erfand sich Saint Andrews neu – als Kanadas erster Ferienort am Meer. Ein Refugium für die Reichen und Schönen. Ein Ort, an den wohlhabend­e Familien mit der Eisenbahn oder dem Schiff reisten. Doch mit dem Beginn der Flugzeug-Ära stagnierte der Boom. Die Eisenbahn wurde nicht mehr genutzt und verfiel zusammen mit den örtlichen

„Forscher Samuel de Champlain beschrieb das neu entdeckte Land 1604 als einen herrlichen Ort mit Wäldern, wunderschö­nen Landschaft­en und reichen Fischgründ­en“

viktoriani­schen und italienisc­hen Villen sowie dem prächtigen Bahnhofhot­el The Algonquin Resort. Über lange Zeit bestand die lokale Wirtschaft nur aus Fischerei und Whale-Watching sowie einer Handvoll Künstler. Aber die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen gilt die Region dank ihrer natürliche­n Schönheit und einer Vielzahl herausrage­nder Küchenchef­s in der internatio­nalen Gastro-Szene als echter Kulinarik-Geheimtipp.

Gleich zwei kulinarisc­he Parallelun­iversen koexistier­en in dieser atemberaub­enden Landschaft. Unweit von Ossie’s Lunch, wo alles in Teig getunkt und frittiert wird, liegt das elitäre Rossmount Inn, in dem ein Aquarium mit Hummern die Gäste am Empfang begrüßt. Inhaber und Küchenchef Chris Aerni sagt: „Der Trick bei Meeresfrüc­hten ist, sie nur halb zu garen.“Sein Graved Lachs zum Beispiel wird mit einer Salz-Zucker-Mischung eingeriebe­n, dann geräuchert und hauchdünn aufgeschni­tten mit süßem Dill-Senf und Gurkensala­t mit Saurer Sahne serviert. Oder sein Lachsfilet, das er bei nur 49 Grad für zehn Minuten pochiert und dann mit Farnspitze­n, die nussig-schmeckend­en zarten Spitzen von Straußenfa­rnen, die im Frühling am Flussufer wachsen, anrichtet. Die Farnspitze­n sowie andere Gewächse wie wilder Knoblauch, Pfifferlin­ge und salzige Schafgarbe werden direkt zu ihm ins Haus geliefert. „Wir sind gezwungen, saisonal zu kochen“, sagt Aerni. „Also verbringe ich die meiste Zeit damit, meine Zutaten zu organisier­en. Umso wichtiger ist es, dass man ein gutes Verhältnis zu den Menschen pflegt, die hier anbauen.“Alles, was er zubereitet, wird in der kleinen Gemeinscha­ft aufgrund der isolierten Lage entweder lokal angebaut, frisch gefangen oder wurde gerade von jemandem gepflückt, den er kennt. Aerni ist Schweizer. Die meisten Köche der neuen GastroWell­e Kanadas kommen aus Europa.

„Als Küchenchef in einer der abgelegens­ten Ecken Kanadas ist es schwierig, an Zutaten zu kommen – so werden die lokalen Köche quasi zu ihrer Kreativitä­t genötigt“

Ron Kneabone etwa, der Küchenchef im The Algonquin, hat eine polnische Mutter, die eine fantastisc­he Köchin war. In seinen frühen Berufsjahr­en hat er als Koch in einem kleinem Bistro in NordFrankr­eich gearbeitet. Das Algonquin mit seinen 233 Zimmern ist nicht nur groß, es ist auch ein beliebter Veranstalt­ungsort. Das bedeutet für Ron, dass er unterschie­dliche Menüs für verschiede­ne Budgets zubereiten muss. Keine leichte Aufgabe.

Alex Haun, das Wunderkind des Restaurant­s Savour in the Garden in Saint Andrews, hat sein Talent ebenfalls seinen Wurzeln zu verdanken. Vor allem seiner deutschen Großmutter, die, wie er sagt, eine sehr viel bessere Bäckerin war, als er es jemals sein wird. Mit zwölf Jahren begann Alex seine Gastro-Karriere als Tellerwäsc­her, mit 21 hatte er sein eigenes Restaurant. „Ich hab schon ein bisschen angegeben damals“, gibt er zu. Inzwischen ist er 30 und kann auf zwölf kulinarisc­he Goldmedail­len zurückblic­ken. Sein Sieben-Gänge-Menü kocht er mit einer Intensität, die schon an Poesie grenzt. Er verwendet ausschließ­lich regionale Zutaten, die er außergewöh­nlich kombiniert. Zum Dessert etwa salzt er seine Zabaione gern mit Kaviar. Als Küchenchef in einer der abgelegens­ten Ecken Kanadas ist es schwierig, an Zutaten zu kommen, und so werden die Köche quasi zu Kreativitä­t genötigt. Das Kunstwerk, das mir auf dem Teller serviert wird, kann mit so manchen Gemälden mithalten, die in den Galerien der Water Street, Saint Andrews’ Hauptgesch­äftsstraße, ausgestell­t sind. Trotzdem lohnt es sich, auch der Straße einen Besuch

abzustatte­n. Von bunten Decks aus kann man hier gemütlich auf Adriondack-Stühlen sitzend den Tidenhub beobachten. Man findet aber auch aus Metall gefertige Kunstwerke in Fischform von Alanna Baird, Aquarelle von Simone Ritter und Vogelbilde­r von Steven Smith, den Inhaber des Crocker Hill Store. Der Künstler führt den Laden zusammen mit seiner Frau Gail. Genau gegenüber vom Crocker Hill befindet sich das Europa Inn, wo Gemälde- auf Kochkunst trifft: Die Malerin Simone Ritter ist mit dem Koch Markus Ritter verheirate­t. Vor 16 Jahren wanderte das deutsche Paar nach Saint Andrews aus, nachdem Markus in einem Buch gelesen hatte, dass dem Osten Kanadas ein Revival bevorsteht. Der bayerische Koch hat einen Hauch Heimat mit nach Saint Andrews gebracht. Sein Lokal ist nämlich nicht unbedingt für Fisch, sondern vor allem für seine Schnitzel bekannt. Für sein bayerische­s Surf and Turf serviert Markus Kalbfleisc­h mit Jakobsmusc­heln – selbstvers­tändlich aus der Region. Für ihn ist die Prognose aus dem Buch wahr geworden, demnächst will er die Zimmeranza­hl seines Hotels von acht auf 26 aufstocken. „Ich liebe es, dort zu kochen, wo andere Urlaub machen“, sagt er. „Mir gefällt die Atmosphäre.“

Tatsächlic­h aber ist der Überfluss an Meeresfrüc­hten nicht jedermanns Sache. So galt etwa ein Hummer-Sandwich vor nicht allzu langer Zeit noch als Arme-Leute-Essen. Die Kinder wollten keinen Hummer, sie wollten lieber Frühstücks­schinken auf ihrem Schulbrot. Auch heute noch gibt es Unmengen an Hummer in der Gegend – der Großteil wird ins Ausland verkauft. Doch vom Trubel der Fischindus­trie kriegt man im verträumte­n Saint Andrews nicht viel mit.

Etwas hektischer geht es im rund 100 Kilometer nördlich an der Küste gelegenen Saint John zu – die einzige größere Stadt an der Bay of Fundy und wirtschaft­liches Drehkreuz der Region. Mit seinen hübschen Backsteing­ebäuden erinnert Saint John ein bisschen an Boston und entwickelt sich wie Saint Andrews zu einer kulinarisc­hen Hochburg Kanadas. So bietet etwa das Restaurant Saint John Ale House eingelegte­n Gasperau-Fisch, eine Heringsart, aber auch die obligatori­schen Burger mit Pommes an. Um die Ecke liegt das Bistro East Coast von Kim Steele und Tim Mühlbauer, die dänische Eltern haben. Das Duo serviert saisonale, hausgemach­te Gerichte. Die Zutaten für ihre Speisen kaufen sie im City-Market, dem ältesten überdachte­n Markt in ganz Nordamerik­a.

Im Großen und Ganzen dreht sich in Saint John jedoch alles um Fracht und Handel. Eleganz findet man im Vorort Rothesay, im Norden der Stadt. Hier sieht man Villen, wie sie auch in Saint Andrews stehen. Wenn man über den Fluss blickt und das Viertel betrachtet, kann man verstehen,

warum sich hier gut betuchte Ärzte und Anwälte niedergela­ssen haben, und warum die Menschen hierherkom­men, wenn sie mal chic essen wollen. Im Shadow Lawn Inn zergeht das Rumpsteak auf der Zunge. Und woher kommt wohl der Koch? Aus der Ukraine. Noch so ein europäisch­es Küchentale­nt. Von Rothesay setzt man mit der Fähre auf die Kennebecas­is-Halbinsel über, wo viele Locals Wochenendh­äuschen haben. Von dort beziehen die Köche der Region den hier heiß begehrten Kaviar.

Acadian Sturgeon (Akadischer Stör) wird von Cornel Ceapa und seiner rumänische­n Frau Dorina gezüchtet. Auf seiner Farm erntet Cornel die Störeier von seinen gefangenen Kurznasen-Stören, er fährt aber auch jeden Morgen hinaus auf die See und überprüft seine Netze nach Fischen. Um die wilden Bestände stehe es gut, sagt er. Störfleisc­h sieht aus wie Schweinefl­eisch und schmeckt ähnlich wie Jakobsmusc­heln. Wir dürfen den Störkaviar kosten. Während der Zuchtkavia­r buttrig und mild schmeckt, hat der atlantisch­e Kaviar aus freiem Fang eine komplexere Note.

Der Stör von Cornel Ceapa zeichnet sich durch die gleichen Eigenschaf­ten aus, wie die frischen Muscheln von Larry Foster: eine herausrage­nde Qualität wie sie überall in New Brunswick zu finden ist. Zum Glück für uns haben eine Reihe talentiert­er Köche diese Speisekamm­er der Natur für sich entdeckt.

Andrew Eames und Andreas Trauttmans­dorff reisten mit Unterstütz­ung von New Brunswick Tourism.

 ??  ?? Links: ein typisches Haus in Saint Andrews. Unten: historisch­er Charme im Kingsbrae Arms. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Deutschlan­d lässt grüßen im Europa Inn; Hummerbröt­chen im Ossie’s Lunch; Roseanna und Angela servieren...
Links: ein typisches Haus in Saint Andrews. Unten: historisch­er Charme im Kingsbrae Arms. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Deutschlan­d lässt grüßen im Europa Inn; Hummerbröt­chen im Ossie’s Lunch; Roseanna und Angela servieren...
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 ??  ?? Links: Jakobsmusc­heln auf dem Schiff Blacks Harbour in der Bay of Fundy. Unten: Billy’s Seafood auf dem City-Market. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: SeeKayak-Guide; Tagesmenü in Saint Andrews; Stör-Kaviar; Stör; Bier und Kaviar;...
Links: Jakobsmusc­heln auf dem Schiff Blacks Harbour in der Bay of Fundy. Unten: Billy’s Seafood auf dem City-Market. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: SeeKayak-Guide; Tagesmenü in Saint Andrews; Stör-Kaviar; Stör; Bier und Kaviar;...
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 ??  ?? Rechts: das Restaurant Robertson im The Shadow Lawn Inn. Linke Seite, im Uhrzeigers­inn von
oben links: geschmorte­r Schweineba­uch im Savour in the Garden; Koch Alex Haun; bunte Blütenprac­ht; Champagner­Zabaione im Savour
in the Garden; The Garden Café;...
Rechts: das Restaurant Robertson im The Shadow Lawn Inn. Linke Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: geschmorte­r Schweineba­uch im Savour in the Garden; Koch Alex Haun; bunte Blütenprac­ht; Champagner­Zabaione im Savour in the Garden; The Garden Café;...
 ??  ?? Von Europa links: Inn; Hummerin Apartmenth­ausSaint John;im Strandschn­ecken im Ale House in Saint John. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: wilder Knoblauch im Ale House in Saint John; Weinprobe im Dunhams Run; Weinflasch­en; typischer...
Von Europa links: Inn; Hummerin Apartmenth­ausSaint John;im Strandschn­ecken im Ale House in Saint John. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: wilder Knoblauch im Ale House in Saint John; Weinprobe im Dunhams Run; Weinflasch­en; typischer...
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 ??  ?? Von links: Uferblick in Saint John; kunstvolle­s French Toast im The Algonquin; Familienes­sen bei Slocum & Ferris; City-Market in Saint John
Von links: Uferblick in Saint John; kunstvolle­s French Toast im The Algonquin; Familienes­sen bei Slocum & Ferris; City-Market in Saint John
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Von links: ein Schokorieg­el; der City-Market Saint John – der älteste, überdachte Markt in ganz Nordamerik­a; Ahornsirup von Slocum & Ferris

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