Kirschen
Jetzt ist ihre Zeit reif. Ob pur, in süßen Marmeladen, luftigen Clafoutis oder zu herzhaften Gerichten – diese Früchte passen immer, findet Clarissa Hyman
Endlich ist die Kirschsaison wieder da. Mal glänzen die Früchte in tiefem Schwarzrot, andere leuchten in satten Rubintönen. Allein der Gedanke an die knackigen Früchte lässt uns in Erinnerungen schwelgen: Was waren das für Wettkämpfe, als wir als Kinder gekonnt die Kerne in einem weiten Bogen durch die Luft spuckten. Dazu die ständig mahnenden Worte der Großeltern: „Trink bloß kein Wasser, wenn du Kirschen isst. Das gibt ganz schlimme Bauchschmerzen.“Nun ja, wissenschaftliche Belege für diese Behauptung gibt es bis heute nicht.
Bleiben wir doch noch ein wenig in der Vergangenheit. Der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere behauptete einst, Lucullus habe die Kirsche von einem Feldzug mit nach Europa gebracht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zwar kehrte der Feldherr mit einem Kirschbaum vom Schwarzen Meer in den Westen zurück, doch vor ihm hatten die Etrusker, die aus dem nordöstlichen Asien über Kleinasien nach Europa kamen, die süße Frucht bereits im Gepäck. Einigen wir uns auf Folgendes: Lucullus war vielleicht nicht der Erste, dafür kultivierte er aber eine ganz besondere Sorte, die aus dem türkischen Kerasos, dem heutigen Giresun, stammt.
Auch heute noch ist die Türkei der weltweit größte kommerzielle Kirsch-Produzent. Aber das Steinobst gedeiht selbst im kühlen England, wo die lokal angebauten Früchte immer beliebter werden. Die Saison auf der Insel dauert allerdings gerade einmal von Februar bis März, wobei die besten Erträge von den Landwirten in Kent dank des dort milden Klimas erwirtschaftet werden. Bei uns beginnen die sogenannten Kirschwochen im Mai und dauern bis in den August. Rund ein Kilogramm vernascht jeder Deutsche im Durchschnitt pro Jahr.
Wir sind allerdings nicht die Einzigen, die auf den Kirschgeschmack gekommen sind: Mit Netzen versuchen die Bauern, gierige Vögel von ihrem Obst fernzuhalten. Früher wurden sogar Käfige mit Katzen in die Bäume gehängt, um die Diebe zu verscheuchen. Ein weiteres Problem ist, dass Kirschen äußerst empfindlich auf Regen reagieren. Hängen sie dann endlich prall, knackig und unbeschadet am Baum, kommt das Problem der Ernte: Am liebsten will das Sensibelchen von Hand gepflückt werden – eine aufwendige und teure Arbeit. Sinkt der Marktpreis für Kirschen, müssen viele Bauern deshalb auf mechanische Helfer zurückgreifen.
Wie Pflaumen, Pfirsiche und Aprikosen gehören Kirschen zur Prunus-Gattung, wobei die kultivierten Kirschen von zwei Wildsorten abstammen: süße Arten von der Prunus avium, die mit einem säuerlichen Geschmack von der Prunus cerasus. Es gibt etwa Hundert Süßkirscharten, die sich teilweise sehr in
„Die dunklen, fast schwarzen Schattenmorellen sind bestens für Kirschmarmelade geeignet und dürfen auch in keiner Schwarzwälder Kirschtorte fehlen“
ihrer Optik unterscheiden. Manche sind dunkelrot, andere weiß oder auch gelb. Das Fruchtfleisch schimmert in Tönen von tiefem, leuchtendem Rot bis hin zu zartem Weiß. Und natürlich sind selbst der Kern und der Saft mal dunkel verfärbt und mal fast durchsichtig hell. Besonders beliebt ist übrigens die Große Prinzessin, die auch Napoleonskirsche genannt wird. Sie schmeckt angenehm süß, und ihre Farbe reicht von Hellrot bis Gelb.
Süße Kirschen wachsen an wesentlich größeren Bäumen als ihre sauren Verwandten. Von diesen gibt es über 300 Sorten, die oft zum Kochen oder für Likör verwendet werden. Die dunklen, fast schon schwarzen Schattenmorellen eignen sich hervorragend für Kirschmarmelade und dürfen in keiner Schwarzwälder Kirschtorte fehlen. Ebenfalls beliebt sind die Amarelle und die französische GriotteKirsche. Die Montmorency-Sauerkirsche galt früher übrigens als die beste Frucht in ganz Frankreich, heute ist sie leider ausgesprochen selten geworden. Und dann gibt es natürlich auch noch diverse Kreuzungen zwischen den süßen und sauren Exemplaren: Die Engländer nennen sie charmant Dukes, die Franzosen sagen Royale und in Deutschland heißen sie schlicht Bastardkirschen.
Die kleine und sehr saure MaraskaKirsche stammt ursprünglich aus Dalmatien und wird dort zum Maraschino-Likör verarbeitet. Dafür werden die Kirschsteine zerkleinert, damit sie ihr herrliches Mandelaroma entfalten können. Bei der Herstellung der Maraschino-Kirsche bleiben die Steine hingegen übrig. Die Früchte werden entsteint, in Sirup eingelegt, mit Bittermandelöl aromatisiert und rot oder grün eingefärbt. Dazu werden die kandierten Glacé-Kirschen oft noch gezuckert und haben mit der eigentlichen Frucht kaum noch Gemeinsamkeiten.
Zurück zu den Leckereien: Ob für Marmelade, Sirup oder ein klassisches Eau de vie – Kirschen sind in ihrer Zubereitung ausgesprochen vielfältig. Sie eignen sich hervorragend für Desserts, etwa als Kompott, in Crumbles oder in Clafoutis. In der türkischen und iranischen Küche verfeinern frische oder auch getrocknete Sauerkirschen allerlei Fleischgerichte, in Nord- und Osteuropa werden sie in Suppen und Saucen verarbeitet. Was aber jeder auf der ganzen Welt liebt: die knackigen Früchte pur zu essen und die Steine so weit wie möglich durch die Luft zu spucken. Der Weltrekord liegt übrigens seit 2003 bei unglaublichen 21,71 Metern.