Bitte pflück mich!
Obst in öffentlichen Parks und am Wegesrand ernten – eine Entdeckungsreise durch die Großstadt
Wenn ich im Spätsommer durch München radle, höre ich manchmal Stim‑ men. „Ach, schüttel mich, schüttel mich“, rufen sie mir aus den Parks und von den Bürgersteigen entgegen. „Wir Äpfel sind alle miteinan‑ der reif.“Mein Blick wandert hoch. Dorthin, woher die Stimmen kommen. Zu den Baum‑ kronen, die schwer tragen. Überall in mei‑ ner Heimatstadt wachsen Obstbäume am Wegesrand. Die halbe Ernte liegt schon überreif am Boden. Äste biegen sich vor Früchten. Und keiner da, der sie ernten will. Mir ging es lange Zeit nicht anders. Weil ich Bedenken hatte: Äpfel mit dem Aroma von Autodiesel? Kerosinbenetzte Kirschen? Kann man überhaupt essen, was längs der Gehwege wächst? Ich war skeptisch und radelte weiter. Doch in meinem Kopf ro‑ tierte es. Mir kam der Gemüsehändler in
den Sinn, bei dem ich samstags Salat und Tomaten kaufte. Er hat seinen Stand neben einer zweispurigen Straße – was mir nie etwas ausgemacht hat. Obst und Gemüse kann man schließlich waschen. Warum sollte für die süßen Früchtchen aus den Parks anderes gelten? Nur: Falls man sie essen kann – darf man das überhaupt?
Schnitzeljagd durch den Supermarkt der Stadt
Zumindest auf die letzte Frage findet sich im Netz eine Antwort: Stehen Obstbäume und Beerensträucher nicht in Nachbars Garten oder auf einem anderen Privatgrundstück, handelt es sich um wilde Pflanzen, die nicht kultiviert werden und somit allen gehören. Tausende Äpfel, Birnen, Nüsse, Kirschen, die gepflückt werden wollen. Also dann: Ihr Rufen wird erhört! An einem sonnigen Nachmittag klemme ich mir einen Weidenkorb auf den Gepäckträger meines Fahrrads und einen Obstpflücker unter den Arm. Los geht die Schnitzeljagd durch den Supermarkt der Stadt. Auf der Suche nach fetter Beute rolle ich zunächst durch eine Parkanlage in München-giesing. Aus dem Augenwinkel fällt mir ein Pärchen auf. Sie ruckeln an Ästen, klauben auf, was zu Boden fällt. Ganz offenbar bin ich auf zwei „Miträuber“gestoßen. Und sie scheinen jenen Haselnussbaum entdeckt zu haben, von dem ich schon in einem Internetforum gelesen hatte. Dort stand: „Sehr ertragreich. Habe selten ein so schönes Exemplar gesehen!“Ohne die zwei wäre ich an der Haselnuss vorbeigefahren. Lektion Nummer eins: Im Supermarkt gibt’s Hinweisschilder, in der freien Wildbahn muss man sich auskennen. Oder ein Bestimmungsbuch mitnehmen (Tipp: zum Beispiel Guido Fleischhauers „Essbare Wildpflanzen“).
„Und, schmecken die?“, frage ich das Pärchen. Sie nicken mit dem Kopf, schweigend, und widmen sich wieder dem konzentrierten Müm‑ meln. Ich scanne das Gras und erkenne vor lauter Grün erst einmal: nichts. Mein Blick ist auf Supermarktregale geschult, nicht auf Stadtnatur. Bis ich die erste Nuss entdecke, vergeht deshalb einige Zeit. Dafür freue ich mich über den Fund wie ein Kind bei der Ostereiersuche. Sorgsam streife ich der Nuss das Blätterröckchen vom Leib, beiße hinein – und spucke das Ganze im hohen Bogen wieder aus. Pfui Teufel! Liegt das etwa doch an den Abgasen, dass dieses Ding so gar nichts mit einer Nuss, aber sehr viel mit dem Geschmack von fadem Gras gemein hat?
Bloß nicht zu viel Skepsis
Magda Zahn beruhigt mich und sie muss es wissen. Die Absolventin des Studiengangs „Landschaftsnutzung und Naturschutz“zog schon mit drei Jahren an der Seite ihrer Mutter zum Blaubeersammeln durch die Wiesen und Wälder ihrer brandenburgischen Heimat. Wenn sich eine mit dem
Ernten von Wildwuchs auskennt, dann sie. Die Nüsse seien noch nicht reif gewesen, erklärt sie mir, als ich ihr am Telefon von der Episode im Gie‑ singer Park erzähle. Mit Abgasen habe das nichts zu tun. Sie verweist dazu auf eine Studie der TU Berlin. Schon zehn Meter von der Straße entfernt seien in Blättern und Früchten nicht mehr Schadstoffe enthalten als im Supermarktgemüse. Kleiner Extratipp: „Am besten ab Hüfthöhe pflücken. Das ist außerhalb der Pinkelreichweite von Mensch und Tier.“Ansonsten rät die 40‑Jährige von allzu viel Skepsis ab. Auch Zierobst könne man probieren und die Miniäpfel oder ‑birnen als Deko für Cocktails verwenden. Dann beginnt sie vom Münchner Kornelkirschen‑ Reichtum zu schwärmen: „Ich liebe es, daraus Marmelade zu machen. Aber die Verarbeitung ist eine Sauerei. Die Arbeitsfläche sieht da‑ nach aus, als hätte man jemanden massakriert.“
Magda Zahn wohnt nicht in München, sondern in Berlin. Dort führt sie Großstädter der Internetplattform „mundraub.org“ durch den Park und zeigt ihnen, wie und wo man mitten in der Hauptstadt Kräuter, Beeren und Früchte pflücken kann. Die Idee von „mundraub“ist so einfach wie genial: Auf einer interaktiven Karte tragen Nutzer wild wachsende Beerensträucher, Kräuter oder Obst‑ bäume ein, die jeder abernten darf. Das ist nicht nur köstlich, sondern auch clever – die Früchte würden sonst einfach verfaulen. Gut 56000 registrierte Mitglieder tragen dort mittlerweile Fundorte ein. In der Erntezeit kli‑ cken sich täglich rund 6000 Menschen auf der Seite vorbei. Zum Diebstahl anstiften will das Angebot aber explizit nicht. Sondern anregen, über Genuss und Wegwerfkultur nach‑ zudenken. „Mundräuber“denken auch an andere und gehen beim Pflücken behutsam vor. Auf der Plattform stehen entsprechende Hin‑ weise zu lesen. Zum Beispiel diese: „Für den Eigenbedarf pflücken ist erlaubt, aber nicht im großen Stil.“„Stelle sicher, dass keine Eigen‑ tumsrechte verletzt werden.“Oder: „Teilt die
Früchte eurer Entdeckungen und gebt etwas zurück.“Der Entdeckeraspekt scheint mir durchaus der anspruchsvollste zu sein. Wo mir der Kennerblick einer Magda Zahn fehlt, bleibt das Fahrradkörbchen leer. Nicht nur am Haselnussstrauch wäre ich beinahe vorbei‑ gelaufen. Wie erkenne ich in einer dicht be‑ wachsenen Grünlandschaft den Birnbaum, der dort wachsen soll? Oder diese Vielzahl von roten und schwarzen Beeren! Die des Weiß‑ dorns zum Beispiel sind laut der „mundraub“‑ Homepage „saftig rot oder leicht orange“. Meinem Empfinden nach gilt diese Beschrei‑ bung für so ziemlich alle Beerensträucher, die mit ihrer Opulenz hässliche Baulücken ver‑ decken. Seit ich „Mundräuberin“bin, sehe ich meine Stadt mit anderen Augen.
Von Sammelleidenschaft und Kindheitserinnerungen
Als ich schließlich zwei Apfelbäume finde, deren saftige Früchte ein „Miträuber“im Netz wärmstens empfiehlt („perfekt zum Verko‑ chen/backen geeignet“), reicht mein Obstpflü‑ cker nicht aus, um an die prallsten Exemplare heranzukommen. Ich ziehe die Schuhe aus und steige dem Baum ins Geäst. Momente wie diese bleiben mir lange in Erinnerung, weil sie sich nach Kindheit anfühlen. Die Sammel‑ leidenschaft hat mich gepackt. Aufgeben? Nicht mit mir! Eine Stunde lang suche ich auf einem einsamen Parkplatz nach „einigen wil‑ den Brombeersträuchern“, die dort laut „mundraub“‑map stehen sollen. Der Tipp von „Reggie“aus dem Jahr 2014 erweist sich als Schuss in den Ofen. Was ich zwischen Wohl‑ standsmüll und Autoreifen stattdessen entde‑ cke, ist eine Einkaufstüte, voll, samt Kassen‑ bon. Wie die da wohl hinkommt? Immer‑ hin meine Fantasie wird satt an diesem Abend. Lektion Nummer zwei lautet deshalb: Als „mundraub“‑azubi braucht man Verbündete. Menschen, die gerne teilen. Solche wie Magda Zahn. Oder Martina Merz. Als ich am fol‑ genden Sonntag bei Facebook vorbeischaue, stoße ich auf ihren eben erst eingestellten Post: „Mirabellen zu verschenken“, steht dort. Merz ist eine der gut 25000 Mitglieder der Facebook‑gruppe von „mundraub“. Zwei Stun‑ den später stehe ich bei ihr im Garten. Rüttle und schüttle gemeinsam mit ihrem Mann und anderen Erntehelfern an dem mächtigen Mi‑ rabellenbaum, bis die gelben Zwetschgen wie Hagelkörner auf die Plane poltern, die wir unter den Ästen ausgebreitet haben. Zugege‑ ben, der Einkauf bei meinem Gemüsehändler ist um einiges bequemer, als sich stundenlang nach Beeren zu bücken und Äpfeln zu strecken. Aber das Gefühl, am Ende eines Beutezugs mit einem gut gefüllten Körbchen nach Hause zurückzukommen? Ist einfach großartig.
„Auf einmal sehe ich meine STADT mit anderen Augen“