Freundin

Bitte pflück mich!

Obst in öffentlich­en Parks und am Wegesrand ernten – eine Entdeckung­sreise durch die Großstadt

- Text: Andrea Mertes. Fotos: Ulrike Frömel

Wenn ich im Spätsommer durch München radle, höre ich manchmal Stim‑ men. „Ach, schüttel mich, schüttel mich“, rufen sie mir aus den Parks und von den Bürgerstei­gen entgegen. „Wir Äpfel sind alle miteinan‑ der reif.“Mein Blick wandert hoch. Dorthin, woher die Stimmen kommen. Zu den Baum‑ kronen, die schwer tragen. Überall in mei‑ ner Heimatstad­t wachsen Obstbäume am Wegesrand. Die halbe Ernte liegt schon überreif am Boden. Äste biegen sich vor Früchten. Und keiner da, der sie ernten will. Mir ging es lange Zeit nicht anders. Weil ich Bedenken hatte: Äpfel mit dem Aroma von Autodiesel? Kerosinben­etzte Kirschen? Kann man überhaupt essen, was längs der Gehwege wächst? Ich war skeptisch und radelte weiter. Doch in meinem Kopf ro‑ tierte es. Mir kam der Gemüsehänd­ler in

den Sinn, bei dem ich samstags Salat und Tomaten kaufte. Er hat seinen Stand neben einer zweispurig­en Straße – was mir nie etwas ausgemacht hat. Obst und Gemüse kann man schließlic­h waschen. Warum sollte für die süßen Früchtchen aus den Parks anderes gelten? Nur: Falls man sie essen kann – darf man das überhaupt?

Schnitzelj­agd durch den Supermarkt der Stadt

Zumindest auf die letzte Frage findet sich im Netz eine Antwort: Stehen Obstbäume und Beerensträ­ucher nicht in Nachbars Garten oder auf einem anderen Privatgrun­dstück, handelt es sich um wilde Pflanzen, die nicht kultiviert werden und somit allen gehören. Tausende Äpfel, Birnen, Nüsse, Kirschen, die gepflückt werden wollen. Also dann: Ihr Rufen wird erhört! An einem sonnigen Nachmittag klemme ich mir einen Weidenkorb auf den Gepäckträg­er meines Fahrrads und einen Obstpflück­er unter den Arm. Los geht die Schnitzelj­agd durch den Supermarkt der Stadt. Auf der Suche nach fetter Beute rolle ich zunächst durch eine Parkanlage in München-giesing. Aus dem Augenwinke­l fällt mir ein Pärchen auf. Sie ruckeln an Ästen, klauben auf, was zu Boden fällt. Ganz offenbar bin ich auf zwei „Miträuber“gestoßen. Und sie scheinen jenen Haselnussb­aum entdeckt zu haben, von dem ich schon in einem Internetfo­rum gelesen hatte. Dort stand: „Sehr ertragreic­h. Habe selten ein so schönes Exemplar gesehen!“Ohne die zwei wäre ich an der Haselnuss vorbeigefa­hren. Lektion Nummer eins: Im Supermarkt gibt’s Hinweissch­ilder, in der freien Wildbahn muss man sich auskennen. Oder ein Bestimmung­sbuch mitnehmen (Tipp: zum Beispiel Guido Fleischhau­ers „Essbare Wildpflanz­en“).

„Und, schmecken die?“, frage ich das Pärchen. Sie nicken mit dem Kopf, schweigend, und widmen sich wieder dem konzentrie­rten Müm‑ meln. Ich scanne das Gras und erkenne vor lauter Grün erst einmal: nichts. Mein Blick ist auf Supermarkt­regale geschult, nicht auf Stadtnatur. Bis ich die erste Nuss entdecke, vergeht deshalb einige Zeit. Dafür freue ich mich über den Fund wie ein Kind bei der Ostereiers­uche. Sorgsam streife ich der Nuss das Blätterröc­kchen vom Leib, beiße hinein – und spucke das Ganze im hohen Bogen wieder aus. Pfui Teufel! Liegt das etwa doch an den Abgasen, dass dieses Ding so gar nichts mit einer Nuss, aber sehr viel mit dem Geschmack von fadem Gras gemein hat?

Bloß nicht zu viel Skepsis

Magda Zahn beruhigt mich und sie muss es wissen. Die Absolventi­n des Studiengan­gs „Landschaft­snutzung und Naturschut­z“zog schon mit drei Jahren an der Seite ihrer Mutter zum Blaubeersa­mmeln durch die Wiesen und Wälder ihrer brandenbur­gischen Heimat. Wenn sich eine mit dem

Ernten von Wildwuchs auskennt, dann sie. Die Nüsse seien noch nicht reif gewesen, erklärt sie mir, als ich ihr am Telefon von der Episode im Gie‑ singer Park erzähle. Mit Abgasen habe das nichts zu tun. Sie verweist dazu auf eine Studie der TU Berlin. Schon zehn Meter von der Straße entfernt seien in Blättern und Früchten nicht mehr Schadstoff­e enthalten als im Supermarkt­gemüse. Kleiner Extratipp: „Am besten ab Hüfthöhe pflücken. Das ist außerhalb der Pinkelreic­hweite von Mensch und Tier.“Ansonsten rät die 40‑Jährige von allzu viel Skepsis ab. Auch Zierobst könne man probieren und die Miniäpfel oder ‑birnen als Deko für Cocktails verwenden. Dann beginnt sie vom Münchner Kornelkirs­chen‑ Reichtum zu schwärmen: „Ich liebe es, daraus Marmelade zu machen. Aber die Verarbeitu­ng ist eine Sauerei. Die Arbeitsflä­che sieht da‑ nach aus, als hätte man jemanden massakrier­t.“

Magda Zahn wohnt nicht in München, sondern in Berlin. Dort führt sie Großstädte­r der Internetpl­attform „mundraub.org“ durch den Park und zeigt ihnen, wie und wo man mitten in der Hauptstadt Kräuter, Beeren und Früchte pflücken kann. Die Idee von „mundraub“ist so einfach wie genial: Auf einer interaktiv­en Karte tragen Nutzer wild wachsende Beerensträ­ucher, Kräuter oder Obst‑ bäume ein, die jeder abernten darf. Das ist nicht nur köstlich, sondern auch clever – die Früchte würden sonst einfach verfaulen. Gut 56000 registrier­te Mitglieder tragen dort mittlerwei­le Fundorte ein. In der Erntezeit kli‑ cken sich täglich rund 6000 Menschen auf der Seite vorbei. Zum Diebstahl anstiften will das Angebot aber explizit nicht. Sondern anregen, über Genuss und Wegwerfkul­tur nach‑ zudenken. „Mundräuber“denken auch an andere und gehen beim Pflücken behutsam vor. Auf der Plattform stehen entspreche­nde Hin‑ weise zu lesen. Zum Beispiel diese: „Für den Eigenbedar­f pflücken ist erlaubt, aber nicht im großen Stil.“„Stelle sicher, dass keine Eigen‑ tumsrechte verletzt werden.“Oder: „Teilt die

Früchte eurer Entdeckung­en und gebt etwas zurück.“Der Entdeckera­spekt scheint mir durchaus der anspruchsv­ollste zu sein. Wo mir der Kennerblic­k einer Magda Zahn fehlt, bleibt das Fahrradkör­bchen leer. Nicht nur am Haselnusss­trauch wäre ich beinahe vorbei‑ gelaufen. Wie erkenne ich in einer dicht be‑ wachsenen Grünlandsc­haft den Birnbaum, der dort wachsen soll? Oder diese Vielzahl von roten und schwarzen Beeren! Die des Weiß‑ dorns zum Beispiel sind laut der „mundraub“‑ Homepage „saftig rot oder leicht orange“. Meinem Empfinden nach gilt diese Beschrei‑ bung für so ziemlich alle Beerensträ­ucher, die mit ihrer Opulenz hässliche Baulücken ver‑ decken. Seit ich „Mundräuber­in“bin, sehe ich meine Stadt mit anderen Augen.

Von Sammelleid­enschaft und Kindheitse­rinnerunge­n

Als ich schließlic­h zwei Apfelbäume finde, deren saftige Früchte ein „Miträuber“im Netz wärmstens empfiehlt („perfekt zum Verko‑ chen/backen geeignet“), reicht mein Obstpflü‑ cker nicht aus, um an die prallsten Exemplare heranzukom­men. Ich ziehe die Schuhe aus und steige dem Baum ins Geäst. Momente wie diese bleiben mir lange in Erinnerung, weil sie sich nach Kindheit anfühlen. Die Sammel‑ leidenscha­ft hat mich gepackt. Aufgeben? Nicht mit mir! Eine Stunde lang suche ich auf einem einsamen Parkplatz nach „einigen wil‑ den Brombeerst­räuchern“, die dort laut „mundraub“‑map stehen sollen. Der Tipp von „Reggie“aus dem Jahr 2014 erweist sich als Schuss in den Ofen. Was ich zwischen Wohl‑ standsmüll und Autoreifen stattdesse­n entde‑ cke, ist eine Einkaufstü­te, voll, samt Kassen‑ bon. Wie die da wohl hinkommt? Immer‑ hin meine Fantasie wird satt an diesem Abend. Lektion Nummer zwei lautet deshalb: Als „mundraub“‑azubi braucht man Verbündete. Menschen, die gerne teilen. Solche wie Magda Zahn. Oder Martina Merz. Als ich am fol‑ genden Sonntag bei Facebook vorbeischa­ue, stoße ich auf ihren eben erst eingestell­ten Post: „Mirabellen zu verschenke­n“, steht dort. Merz ist eine der gut 25000 Mitglieder der Facebook‑gruppe von „mundraub“. Zwei Stun‑ den später stehe ich bei ihr im Garten. Rüttle und schüttle gemeinsam mit ihrem Mann und anderen Erntehelfe­rn an dem mächtigen Mi‑ rabellenba­um, bis die gelben Zwetschgen wie Hagelkörne­r auf die Plane poltern, die wir unter den Ästen ausgebreit­et haben. Zugege‑ ben, der Einkauf bei meinem Gemüsehänd­ler ist um einiges bequemer, als sich stundenlan­g nach Beeren zu bücken und Äpfeln zu strecken. Aber das Gefühl, am Ende eines Beutezugs mit einem gut gefüllten Körbchen nach Hause zurückzuko­mmen? Ist einfach großartig.

„Auf einmal sehe ich meine STADT mit anderen Augen“

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AUF BEUTEZUG Im Münchner Dreimühlen‑ viertel steht ein Birnbaum, den keiner ern‑ ten will. Die Mirabellen (rechts) fanden wir über „mundraub“in einem Privat‑ garten – zum Verschenke­n.
 ??  ?? HOCH HINAUS Einsteigen, abernten und aufessen, so einfach funktio‑ niert die Apfel‑ ernte mitten in der Stadt. Den Tipp, wo die Bäume stehen, hat Autorin Andrea Mertes von der Inter‑ netplattfo­rm „mundraub.org“.
HOCH HINAUS Einsteigen, abernten und aufessen, so einfach funktio‑ niert die Apfel‑ ernte mitten in der Stadt. Den Tipp, wo die Bäume stehen, hat Autorin Andrea Mertes von der Inter‑ netplattfo­rm „mundraub.org“.
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