Freundin

Die erste Frau, die eine Parlaments­rede hielt

Eine Sozialdemo­kratin (1879–1956) las den Männern im Reichstag die Leviten und gründete mit der Arbeiterwo­hlfahrt einen Sozialverb­and, der noch heute Gutes tut

-

Es ist ein Premiere, die mit einem Pauken‑ schlag beginnt: Als die Sozialdemo­kratin Marie Juchacz am 19. Februar 1919 als erste Frau am Rednerpult des Reichstags das Wort ergreift, fackelt sie nicht lange: „Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstver‑ ständlichk­eit. Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalt­en worden ist.“Erst drei Monate zuvor war das Frauenwahl‑ recht in Kraft getreten, und die Parlamenta­rier der Weimarer Nationalve­rsammlung sollten ja nicht denken, die Kollegin‑ nen schuldeten ihnen Dank.

Marie kommt als Toch‑ ter eines Zimmermann­s in Landsberg an der Warthe nahe Posen zur Welt. Nach der Volksschul­e arbeitet sie als Dienstmädc­hen und in Fabriken, später als Aufse‑ herin in einer Nervenheil­an‑ stalt. Ohne Wahlrecht ist sie politisch ein Mensch zwei‑ ter Klasse. Sie spart, um sich einen Näh‑ und Schneide‑ reikurs leisten zu können, der ihr eine Anstellung in der Werkstatt des Schnei‑ dermeister­s Bernhard Juchacz ermöglicht. Bald darauf heiratet sie ihren Chef. Als die Ehe 1906, nach drei Jahren, scheitert, zieht sie mit ihren zwei Kindern nach Berlin. Da es Frauen damals verboten ist, politische­n Verei‑ nen beizutrete­n, tarnt Marie ihr Engagement als Bildungsar­beit: Sie organisier­t Ferien für Arbei‑ terkinder und leitet Versammlun­gen für Frauen. Bei alldem entdeckt sie ihr rhetorisch­es Talent: Sie kann Leute mitreißen. Die SPD wird ihre politische Heimat und 1908, nach einer Gesetzes‑ änderung, darf sie ihr endlich auch legal beitre‑ ten. Die Partei schickt sie ins Rheinland, wo Juchacz Industriea­rbeiterinn­en für die Sozialdemo­kraten begeistern soll. 1919 sitzt die politische Kämpferin für die SPD in der Weimarer Nationalve­rsammlung. Im selben Jahr gründet Ju‑ chacz die Arbeiterwo­hlfahrt (AWO) – ihre größte Tat. Bereits 1920 gibt es rund 2000 Ortsverein­e und über 100000 freiwillig­e Helfer. Marie Juchacz verstand ihr Engagement als aktive Solidaritä­t. Die Arbeiterwo­hl‑ fahrt setzt der Pionierin im August 2017 am Berliner Mehringpla­tz deshalb ein Denkmal. Spd‑kanzlerkan­di‑ dat Martin Schulz würdigt Juchacz als Frau, der „wir auch heute noch danken müssen“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany