Hilfe, ein Mathe-albtraum!
Angstträume, die immer wiederkehren, verraten mehr über uns, als wir denken
Wenn es passiert, ist der Ablauf stets derselbe: Ich bib‑ bere vor der Klasse, verzweifle an einer komplizier‑ ten Gleichung, die an der Tafel steht. Ich öffne den Mund. Kein Ton kommt heraus. Ich schwitze, meine Hände sind feucht, der Lehrer runzelt die Stirn, die Mitschüler lachen…in diesem Moment wache ich auf. Immer. Und brauche eine Weile, um zu registrieren, wo ich mich in Wirklichkeit befinde: Es ist das Jahr 2018, ich bin in meinem Schlafzimmer. Einen Klassenraum habe ich das letzte Mal von innen gesehen, als ich zum Elternabend in die Schule meiner Tochter musste. Mein Abitur habe ich längst bestanden. Sogar mit einem Einser in Mathe. Bitte, was soll
dann dieser Traum? Träume sind mir ohnehin ein Rätsel. Welcher Quark einem da nachts durch die Hirnwindungen schießt, das kann kein Symbol-lexikon klar deuten. Ich träume von Weltuntergängen, aber auch davon, den – recht unattraktiven – Nachbarn zu verführen. Träume von einem Kind, das ich vor dem Supermarkt wie einen Handschuh verliere und nicht wiederfinde. Und davon, ins Unendliche zu fallen, ohne Halt zu finden. Ich möchte ja gern darauf vertrauen, dass die nächtlichen Bilder gar keine spezielle Aufgabe haben, sondern nur das Nebenprodukt anderer Hirnfunktionen sind. Wie etwa „die Bereinigung der Neuronen während des Schlafes“, wie Psychotherapeut Dave Billington vom „Dream Research Institute“in London behauptet. Oder dass verstörende Träume durch bestimmte Nahrungsmittel, die man kurz vor dem Zu-bett-gehen zu sich nimmt, verursacht werden, wie eine kanadische Studie ergab. Nur, so viel seltsame Dinge kann man doch gar nicht essen, oder? Außerdem weigere ich mich, meinen Kopf als Gedankenmüllsortieranlage zu betrachten.
Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass da das Unterbewusstsein beharrlich an meine Schädeldecke klopft, um endlich eine wichtige Botschaft loszuwerden. Laut einer Untersuchung der Universität von Montreal kennen schließlich fast 70 Prozent der Erwachsenen das Phänomen der Wiederholungsträume: Sie fantasieren nachts vom Fliegen, vom Sterben, von einer Prüfung, sie werden verfolgt oder gehen verloren. Eine Blitzumfrage in der Redaktion ergänzt dieses Bild: Zwei Kolleginnen teilen mit mir die Erfahrung des vergeigten Matheaufgaben-traums. Eine kann die schriftliche Aufgabe im Heft nicht lösen, während unerbittlich die Zeit abläuft. Die andere weiß, sie braucht nur noch einen einzigen Punkt, um das Abi zu bestehen, aber den bekommt sie einfach nicht. Gruselig ist der wiederkehrende Albtraum einer guten Freundin: Sie liegt in einer engen Kiste, vielleicht ein Sarg, und sie weiß, sie kriegt den Deckel nicht auf. Sie wacht auf, weil sie leise im Schlaf wimmert – und ihr Mann versucht, sie zu beruhigen. Da bekomme ich schon vom Zuhören Beklemmungen.
Eine plausible Erklärung eines Wissenschaftlers dazu einzuholen, gestaltet sich kompliziert. Zwar hat die Deutung von Traumbildern eine lange Tradition und wurde schon in der Antike betrieben, doch Aussagen wie „Man sieht die Zukunft im Traum“klingen mir zu esoterisch. Sigmund Freud war einer der Ersten, die sich wissenschaftlich dem Thema annahmen – der Begründer der Psychoanalyse war überzeugt, der Traum sei der Zugang zu unserem Unterbewusstsein. Wie man es von Freud kennt, äußerten sich so vor allem geheime sexuelle Wünsche. Ich glaube allerdings nicht, dass sich alles derart vereinfachen lässt. Eine Schlange ist manchmal nur eine Schlange. Und kein Hinweis auf einen Penisneid. Traumlexika, die man zuhauf im Internet findet, sind für mich vor allem amüsante Diskussionsgrundlage: Eine Prüfung soll die Strafe für frühere Kinderstreiche sein? Im Sarg liegen verheißt ein glückliches Ende? Verstehe ich nicht.
Ich rufe bei Professor Michael Schredl an, dem Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Er ist einer der wenigen in Deutschland, die seriös das subjektive Erleben im Schlaf erforschen. „Unsere Träume sind ein metaphorischer Ausdruck für etwas, was uns beschäftigt“, erklärt er mir. „Der Traum nutzt kreative Bilder, die mit starken Emotionen verknüpft sind und sich gut einprägen.“So heißt die vergeigte Matheaufgabe nicht, dass ich jetzt weiter Matheaufgaben machen muss. Sondern dass eine Art Prüfung ansteht, die mir Sorgen bereitet oder mich unter Druck setzt. Ständig Leistung abliefern zu müssen etwa oder permanente Bewertung. Kenne ich, meine Kolleginnen auch: Unsere Artikel werden von vielen Leuten
Ich werde das Gefühl nicht los, dass mein Unterbewusstsein beharrlich eine Botschaft loswerden will
geprüft. Vielleicht ist deswegen diese Art Traum in der Redaktion so häufig. „Man sollte sich bei jedem Traum fragen: ,Was hat er mit mir zu tun?‘“, empfiehlt Schredl. Und gibt Anregungen: Das verlorene Kind bedeu‑ tet vielleicht, dass ich Angst vor Verantwortung habe. Der Fall‑traum: Fühle ich mich manchmal, als wür‑ de mir der Boden unter den Füßen weggezogen? Das klingt nicht besonders mys‑ teriös. Aber interessant ist es, wie ein Fenster in meine Seele. Als würde etwas deutlich werden, was mich sowieso umtreibt.
Schredl arbeitet seit 1991 im Schlaflabor, aber er ist immer noch fasziniert davon, wie schöpferisch unser Gehirn im Schlaf arbeitet. „Manche Träume sind wie gute Kinofilme.“Der Wissenschaft‑ ler weiß auch, wie wir diesen quälenden Nachtgespenstern à la Mathetest beikommen können. „Schreiben Sie das Szenario bewusst im Kopf um“, empfiehlt er. „Visualisieren Sie dieses Szenario zwei Wochen lang täglich im Wachzustand, etwa fünf Minuten lang.“Exrsmcmhildertfreeiunndeinn Fall aus seiner Albtraum‑ Sprechstunde: Eine Frau träumte immer wie‑ der davon, dass sie das Haus der Oma ver‑ lassen müsse, obwohl draußen etwas Schreck‑ liches lauert. Zusammen mit den Medizi‑ nern des Schlaflabors entwarf sie ein anderes Ende. Und schaffte es (mithilfe von Fabelwesen aus „Harry Potter“), im Traum die Tür zu öffnen und herauszutreten. Vi‑ sualisiert man eine positive Lösung, das fanden auch die Traumforscher der Uni‑ versität Montreal heraus, führt das zu einem besseren Wohlbefinden. Muss ich ausprobieren. Was soll ich sagen? Vom Mathetraum bin ich schon länger nicht mehr aufgewacht. Und als ich wieder einmal ins Bodenlose fiel, tauchte ich schnell in klares, warmes Was‑ ser ein. So, wie ich es mir vorher vorge‑ stellt habe. Ich wachte auf. Ohne Panik. Aber mit einem schwerelosen Gefühl und einem Lächeln auf den Lippen.
Der Wissenschaftler ist fasziniert davon, wie schöpferisch unser Gehirn im Traum arbeitet. „Das ist wie ein guter Kinofilm“