Fühlt man sich neben großen Männern mit dicken Muskeln stärker und sicherer?
Für manche Situationen muss man erst ein wenig Angst gehabt haben, um Sicher‑ heit zu erleben. Ich komme aus einem ziem‑ lich kuscheligen Vorort von Hamburg. Ein paar Kilometer weiter gibt es einen weniger ku‑ scheligen Vorort mit der Schankwirtschaft „Chayenne“, dort verkehren überwiegend Fußball‑fans zwischen 20 und 30, die samstags nicht wegen Fußball ins Stadion gehen, eher nicht grün wählen und tendenziell gewaltbereit sind, um es mal freundlich zu formulieren. Um klar zu signalisieren, dass ich im „Cha‑ yenne“absolut nichts verloren habe, betrete ich an einem Montagabend gegen 21 Uhr in An‑ zug, weißem Hemd und Krawatte die Kneipe, stelle mich an den Tresen und bestelle ein Holsten. Um die Stimmung gleich etwas zu be‑ leben, wiege ich die Bierflasche in der Hand und frage die Wirtin eine Terz zu laut, ob sie „das hier auch in kalt dahat“, schließlich hätte ich Durst und keine Erkältung. Das ist offenbar genau die Art von Ansprache, mit der man im „Chayenne“schnell Anschluss findet. Schnell bin ich von vier jungen Männern in Jeanswesten und Fan‑schals umringt. Ei‑ ner zieht zweimal kurz an meiner Krawatte, sagt: „Ding‑dong, schönen Abend“, ein anderer legt mir den Arm um die Schulter und sagt: „Wer hier im ‚Chayenne‘ neu ist, gibt erst mal einen aus. Uschi, machst du mal vier Hols‑ ten, vier Jägermeister?“Eine halbe Stunde und drei Runden Holsten/jägermeister später (jede davon wurde mit einem zweifachen kurzen Ziehen an meiner Krawatte in Auftrag gegeben: „Ding‑dong, Uschi, noch mal das Gleiche hier“) habe ich rund 80 Euro auf dem Deckel stehen und bin ein bisschen in Sorge, weil ich so viel Spesen mit unserer Geschäftsführen‑ den Redakteurin vorher nicht abgesprochen hatte. Ich möchte jetzt gern gehen. „Gleich, Al‑ ter“, sagt einer meiner neuen Bekannten, „Problem ist, dass sich unser Kumpel hier ge‑ rade den Knöchel verstaucht hat, wir müs‑ sen ihn im Taxi nach Hause bringen, gib mal 20 Euro, kriegst du wieder, wenn du das nächste Mal wieder warmes Bier bei uns trinken willst.“Gut, 100 Euro sind futsch und ich habe noch nicht mal einen Bewirtungsbe‑ leg. Was die vier Hosenscheißer allerdings nicht wussten: Dieser Abend war nur der erste Teil meiner Recherche. Am nächsten Montag bin ich wieder im „Chayenne“– aber nicht allein. Mein 17‑jähriger Sohn trainiert seit zwei Jahren Kickboxen und hat in dem Studio sehr nette Bekanntschaft mit Sportsfreunden aus dem Kosovo, aus Albanien und aus Serbien gemacht, vier von ihnen begleiten mich an diesem zweiten Abend. Im Auto ist es etwas eng, alle sind um die zwei Meter groß, aus Scherz messe ich ihren Bizeps‑umfang mit meinen Hän‑ den, ich brauche drei, um einmal herumzu‑ kommen. Alle vier ganz reizende Menschen, wie ich auf der Fahrt feststelle, warmherzige Familienmenschen und alle vier harte Arbeiter, schieben neben ihren Jobs abends an Wo‑ chenenden noch Türsteher‑jobs auf der Reeper‑ bahn in Hamburg. Am Tresen entdecke ich schnell meine neuen Bekannten vom letzten Montag, ich winke ihnen freundlich zu, sie mö‑ gen doch zu uns an den Tresen kommen.
Sie zögern, letzte Woche waren sie irgendwie kontaktfreudiger. Ich bitte meine Begleiter, das Quartett zu mir an den Tresen zu bringen, sind halt schüchtern, die jungen Leute. Als sie etwas verzagt bei mir stehen, will ich die Stimmung ein wenig auflockern, packe einen von ihnen an der Nase, drehe sie zweimal hin und her, sage „Ding‑dong“und zu Uschi: „Eine Runde Holsten/jägermeister und für meine Freunde eine Runde schwarzen Tee.“Ein richtig bunter Abend wird das und am Ende kommt es noch zu einer ganz rührenden Szene, als die vier Fans ihr ganzes Kleingeld zusam‑ menlegen, um mir die 20 Euro zurückzugeben.
Meine Retourkutsche kann man natür‑ lich ein bisschen billig finden, aber: Dass Sicher‑ heit auch eine ganz unmittelbar körperli‑ che Komponente hat, habe ich an diesen beiden Abenden im „Chayenne“tatsächlich erlebt. Diese Oberarme, unglaublich!