Gibt es einen Ort, an dem man sich ein Leben lang sicher fühlt?
Heute habe ich mich für den letzten Teil meiner Reise auf der Suche nach Sicherheit bei der Mitfahrzen‑ trale in Göttingen angemeldet und habe zwei Freundinnen, Anika und Jana, auf dem Rück‑ sitz und Justus neben mir auf dem Beifahrersitz. Anika und Jana sind nach dem Abitur aus der Kleinstadt weg, zu der wir jetzt hinfahren. Sie sind dort groß geworden. Beide sind in Göttin‑ gen gelandet, weil sie dort ei‑ nen Studienplatz in Biologie be‑ kommen haben. Sie leben zu‑ sammen in einer Vierer‑wg, er‑ zählen von ihren Mitbewohnern, von Partys, von absurden, nächt‑ lichen Erlebnissen, kichern, scher‑ zen. Und wie cool es sei, jetzt mal wieder nach Hause zu kom‑ men, dahin, von wo man immer wegwollte. Justus sagt gar nichts.
Ich fahre von der Autobahn runter, ein paar Kilometer auf der Landstraße, ein Ortsschild taucht auf, „Worbenwede“. „Da“, sagt Jana und deutet auf einen leicht abschüssigen braunen Acker, „da sind wir immer rodeln gegangen.“„Nicht gerade eine Mörderabfahrt“, wende ich ein. „Muss man dabei gewesen sein“, sagt Anika, „da gab es die ‚Todesabfahrt‘, die lief auf einen Stacheldrahtzaun zu, da musste man sich limbomäßig ducken.“„Und da haben wir uns immer mit den coolen Jungs getroffen, die zwei, drei Jahre älter waren und schon einen Füh‑ rerschein hatten“, sagt Jana und deutet in die Dunkelheit.
„Und da, da vorne hast du zum ersten Mal mit Reinhard ge‑ knutscht, Reinhard, der mit sei‑ ner Band auf unserer legendä‑ ren Abi‑fete aufgetreten ist. So, hier muss ich raus.“Ich sehe einen 70er‑jahre‑flachdachbau, in der Küche brennt noch Licht. „Tschau, Anika, wir sehen uns morgen auf dem Markt?“„Gegen Mittag“, sagt Jana, sie steigt ein paar Straßen weiter aus. „Fahr mal langsamer“, sagt Justus. Er zeigt auf ein gelb verklinkertes Einfamilienhaus, in dem kein Licht brennt. „Da war ich mal zu Hause.“„Was ist passiert?“„Autounfall, fahr mal weiter, bit‑ te.“„Wohin?“„Zu meiner Schwes‑ ter und ihren Zwillingen, Joni und Felix, die sind drei Jahre alt, zuckersüß, morgen gehen wir zusammen schwimmen, ich freu mich so was von auf die bei‑ den.“Ein paar Straßen weiter las‑ se ich Justus raus. „Danke, alter Mann, danke für das gute Ge‑ spräch, echt.“Eine halbe Stunde später bin auch ich endlich wieder zu Hause, am Ende meiner Reise auf der Suche nach Sicher‑ heit. Es ist das Haus meiner Eltern, die nicht mehr leben, der Ort, an dem ich groß geworden bin, der Ort, den meine Kinder als heile Welt bei Oma und Opa als ihre zweite Heimat kennen.
Ich mache den offenen Kamin an und lege die Füße davor. Morgen kommen meine Kinder, ich habe die Abzugshaube von der Küche nach draußen zum Ein‑ gang legen lassen, damit sie den Geruch von Omas Hühner‑ suppe riechen können, wenn sie an der Tür klingeln. Ein Zu‑ hause zu haben, in das man immer zurückkehren kann, im‑ mer, wenn es einem besonders gut geht, wenn man was Tolles zu erzählen hat, aber auch immer, wenn man vor Verzweiflung nicht mehr weiter weiß, ist mit Gold nicht aufzuwiegen. Mehr Sicher‑ heit geht nicht. Das gibt man nur auf, wenn man um sein Leben rennen muss.