Die Klassische
Mit Pflanzvorlieben verhält es sich manchmal wie mit Schlaghosen oder Lidstrich: Wenn man nur lange genug wartet, ist, was gestern noch oll war, heute schon wieder total modern. Aber das nur unter uns. Denn die Klassische interessiert sich für Trends ungefähr so brennend wie für die Bodenreform in Tim‑ buktu. Sie hält einfach gern am Bewährten fest, also etwa an den Dutzenden hängenden Geranien auf ihrem Balkon. Während die Hipster nebenan so tun, als wäre Urban Gardening das neue Yoga und so‑ gar Gurken, Radieschen, Artischocken und natürlich Küchenkräuter anpflanzen, kauft sie ihr Gemüse weiterhin im Supermarkt. Das genießt sie dann am kleinen Tischchen unter dem Sonnenschirm inmitten des herrlichsten Sommerfeelings überhaupt: einer wahren Farbexplosion von Violett, Pink, Rosé und Lachs. Übrigens gänzlich stechmückenfrei. Denn bestimmte Duft‑geranien sind ein exzellenter Insektenschutz. Überhaupt ist die Geranie, ganz wie die Klassische, anders als gedacht. Unter all der vermeintlichen Übersichtlichkeit brodelt es nämlich gewaltig. So wie die Geranie über eine immense Sortenvielfalt verfügt, so verfügt auch die Klassische über ein enorm reiches Innenleben, ist fantasievoll, neugierig und trotzdem zuverlässig. Bloß, dass sie das nicht dauernd zeigen muss. Wieder ein Beispiel, dass man das Einfache niemals unterschätzen sollte. Das finden übrigens jetzt auch die Nachbarn. Nach‑ dem ihr Schrebergartenparadies im dritten Stock eine Mäuse‑großfamilie angelockt hatte und ihnen die Klassische bei Kaffee und Kuchen in ihrem Sommer‑ tagstraum Asyl gewährt, finden sie nun Geranien irgendwie doch total cool. Aber auch das wird vor‑ beigehen. Außer natürlich bei der Klassischen.