Liebe Obutga-ten,
sicherlich wunderst Du Dich, dass ich Dir schreibe – einerseits, weil Du nicht lesen kannst, und anderer‑ seits, weil unsere Beziehung nie so eng gewesen ist, dass ein Brief von mir zu erwarten gewesen wäre. Über Jahrzehnte hinweg warst Du für mich nur die Streu‑ obstwiese auf der anderen Seite der Hofeinfahrt, direkt neben der Sandkiste, die mir schon als Kind viel zu sandig war, um darin zu spielen. Ich habe Dir schon deshalb selten Aufmerksamkeit geschenkt, weil es Dich schon immer gab. Tatsächlich habe ich Dich in konsequenter Missachtung der Birnbäume, der Zwetschge und der Süßkirsche, die meines Wissens nie eine Frucht getragen hat, stets Apfelgarten genannt. Boskop, Stina Lohmann, Cox Orange und noch ein paar andere Sorten, von denen ich nicht die Namen kenne; jedenfalls gab es Jahr für Jahr viel zu viele Äpfel. Mutter schlug stets die Hände über den Kopf zusammen und fragte sich, was sie mit der Ernte anfangen solle, während Vater noch mit 90 trotzig die Leiter in die Bäume stellte, um den Ertrag zu optimieren. Nun sind die Eltern ausgezogen und der Hof ist verkauft. Eigentlich hätte ich erwartet, dass mich beim Abschied vom Haus meiner Kindheit die Wehmut packen würde, aber nun ist es ausgerechnet der Abschied von Dir. Die Melancholie kennt seltsame Wege und packt einen mitunter in den un‑ wahrscheinlichsten Momenten. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich besondere Erinnerungen mit Dir verbinde. Gewiss, ich entsinne mich an den Versuch eines Baumhauses und an den Schatten an heißen Sonnentagen, aber das war’s. Doch neu‑ lich, als Du in voller Blüte standest, und vor ein paar Tagen, als die ersten
Früchte an den Ästen hingen und das Grün sich vor dem blauen
Himmel abzeichnete, dachte ich:
Dich werde ich vermissen.