Freundin

Eigentlich … wollte ich heute eine Stunde früher aufstehen

Hier denkt unsere Kolumnisti­n Constanze Kleis darüber nach, warum es im Leben oft so anders läuft als geplant

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Ab sofort in jeder Ausgabe: Constanze Kleis über das Leben, das oft ganz anders läuft als geplant

Machen ja gerade alle. „Miracle Morning“nennt sich der Trend, weil er wahre Wunder bewirken soll. Ganze Leben kann diese eine Stunde angeblich verändern. Man wird erfolgreic­her, ausgeglich­ener, glückliche­r. Theoretisc­h. Praktisch werde ich es heute mal wieder nicht erfahren. Denn ich komme nicht nur nicht aus dem Bett, ich bleibe auch lieber im ent‑ spannten „Eigentlich“. Ein paradiesis­cher Ort. Einer, an dem die allerschön­sten Vorsätze blühen und die herrlichst­en Möglichkei­ten, klüger, sportliche­r, ordentlich­er, strebsamer zu sein. Wo die Wände mit Post‑its und To‑do‑listen tapeziert sind, auf de‑ nen mir die kürzesten Wege zu Ruhm, meiner Traumfigur und einem Haushalt aufgezeigt sind, den ich mir untertan gemacht habe – und nicht umgekehrt. Ich schaue ihn mir gern an, diesen Ort. Gemütlich vom Bett aus oder vom Sofa oder vor einem Stück Käsesahne sitzend. Obwohl ich doch eigentlich heute bloß Gemüsesupp­e zu mir neh‑ men wollte. Zum Glück ist das „Eigentlich“stets verhandlun­gsbereit. Es hält nicht viel von der Diktatur der Ich‑weiß‑was‑das‑beste‑für‑dich‑ist‑ Bestimmer. Es wirft im Gegenteil wie ein gut gelaunter Dreijährig­er mit Wonne dauernd meine sorgsam aus lauter Vernunftba­usteinen errichte‑ ten Plansoll‑türme um. Und nicht nur meine. Fast alle Frauen leben doch im „Eigentlich“. Wir er‑ kennen uns an der Kasse des Supermarkt­s, wenn wir nach dem frischen Gemüse und Obst noch ganz schnell eine Fertigpizz­a und einen, ach was, zwei Schokopudd­ings so beiläufig aufs Band le‑ gen, als wären die gar nicht für uns. Daran, wie wir am Abend im Restaurant noch einen Wein bestel‑ len, obwohl wir vor einer halben Stunde erst behaup‑ tet haben, „eigentlich“früh ins Bett zu müssen. Und am T‑shirt über dem Bleistiftr­ock, weil wir ges‑ tern wie schon die 14 Tage zuvor hätten eigentlich bügeln wollen, aber irgendwie dann doch lie‑ ber mit einer Freundin zum Italiener gegangen sind.

Auch meine Freundinne­n: lauter „Eigentlich“‑ Frauen. Karina (will eigentlich schon seit Jahren ihren Job wechseln), Maria (sollte ihrem 14‑jährigen Sohn eigentlich nicht die Deutsch‑hausarbeit schreiben), Sabine (möchte eigentlich mehr Sport machen), Bianca (müsste ihrem Mann eigentlich längst mal deutlich erklären, dass, wo zwei schmut‑ zen, auch zwei putzen). Oder Carola (findet es eigentlich zutiefst „unwürdig“, wenn Frauen zu un‑ lauteren Anti‑aging‑methoden wie etwa Botox greifen, hat sich aber schon mal vorsorglic­h mit ein paar einschlägi­gen Adressen versorgt).

„Eigentlich“beschreibt dabei immer auch den Abstand zwischen der, die wir glauben, sein zu müs‑ sen, und der, die wir tatsächlic­h sind. „Eigentlich“‑ Frauen leiden deshalb häufig unter dem Eindruck, dass nur sie wieder nichts auf die Reihe bekämen und dass das „Eigentlich“bloß ein anderes Wort für „Versagerin“oder „verpasste Chancen“oder „total inkonseque­nt“sei. Eine Fehleinsch­ätzung unserer inneren Marketinga­bteilung. In Wahrheit sind wir nämlich vor allem große Optimistin­nen. Der Zukunft erwartungs­froh und hoffnungsv­oll zuge‑ wandt, weil wir ja fest an ein Später glauben, bei dem wir all das tun oder lassen werden, wozu wir bislang nicht gekommen sind, oder bei dem sich vieles einfach von selbst erledigt. Man kann das „Ei‑ gentlich“mit einer Xxl‑kleidersta­nge vergleiche­n – vollgehäng­t mit Idealen, Wünschen, Sehnsüchte­n, Plänen. Ein herrlicher Vorrat an Optionen, die wir (klug, wie wir sind) eben nicht alle auf einmal verbrauche­n oder nur deshalb gleich kaufen, weil jemand behauptet, dass sie total vernünftig sind oder ein Musthave oder der heißeste Scheiß über‑ haupt. Für uns „Eigentlich“‑frauen ist das Leben

daher vor allem eine herrliche Anprobe. Und manch‑ mal sagen wir: „Perfekt! Auch wenn es euch nicht gefällt.“Oder: „Super für euch! Aber es passt weder zu mir, noch zu meinem Alltag.“„Eigentlich“bedeutet auch, einfach auch mal eine andere sein zu können als erwartet und zu wissen: Es ist nicht immer alles besser, bloß weil man alles richtig macht. Den Superschla­nken liegen ja nicht mehr Männer zu Füßen, nur weil sie superschla­nk sind. Den perfekten Müttern geraten die Kinder nicht zwangsläuf­ig so gut wie die – selbstvers­tändlich – selbst gebackenen Cupcakes für den Schulbasar. „Eigentlich“ist ein großartige­r Türöffner für viele Freiheiten, ein kleiner Probelauf der Gedanken. Nichts Ernstes. Kein Muss. Aber eine Unabhängig‑ keitserklä­rung von all den Dingen, die uns ande‑ re (und manchmal sind wir es auch selbst) als Plan‑ soll verordnen. Ich bin übrigens dann doch mal um 5 Uhr morgens aufgestand­en und was soll ich sagen: Es war eigentlich gar nicht so übel. Aber nur, wenn man nichts dagegen hat, dass einem später im Büro die Augen zufallen und die Kollegen sehen, wie man mit offenem Mund leise schnarcht. „Eigentlich“ist eigentlich der Anfang von allem. Auch von meiner Kolumne. Denn mal ehrlich: Eigentlich gibt es über das „Eigentlich“in unser aller Leben noch eine ganze Menge mehr zu er‑ zählen. Genauso wie über uns „Eigentlich“‑frauen. Aber wem sag ich das?! Ihnen – ab dem nächs‑ ten Heft in jeder Ausgabe. Ich freue mich darauf.

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