Dieses Weihnachten vergess ich nie
Kaum ein Ereignis ist so überfrachtet mit Erwartungen wie Heiligabend. Harmonisch soll es sein, familiär, kurz: perfekt. Wirklich? Vier Autorinnen erinnern sich an Feste, die anders waren – und trotzdem schön
Vier Autorinnen erinnern sich an Feste, die anders liefen als erwartet
„ICH FEIERTE MIT FREMDEN“
Es war im Jahr nach meiner Trennung. Auf einmal waren da der Hund, ich – und dieses Fest der Liebe. Ich hatte Angst vor einer Leere inmitten von goldenen Lichtlein. Und auf elterliche Gespräche keine Lust. Also fuhr ich zu einem Berghotel, das mit „Single-geborgenheit“warb. Und versprach mir: Wenn da nur Familien am Festtagstisch sitzen, mache ich mit dem Hund einen Spaziergang und verschwinde ab 18 Uhr aufs Zimmer. Ich reiste am 23. an, stellte meinen Koffer auf den knarzenden Dielen ab, es roch nach Zirbenholz. Beim Abendessen wurde ich an einen Tisch geführt, an dem drei weitere Singles versuchten, ihr Alleinsein mit Würde zu tragen. Der Berliner Uniprofessor nickte mir zu, der Unternehmer aus dem Saarland schüttelte meine Hand und die Stylistin aus Schwaben strahlte mich an: Sie war nicht mehr die einzige Frau am Tisch. Verlegen, aber mutiger werdend, begannen wir, jeder auf seine Weise, ein Stück seines Lebens preiszugeben. Es wurde unterhaltsam, erst kurz vor Mitternacht verließen wir die Tafel. Ich schlief gut in dieser Nacht. Am Heiligen Abend warf ich vormittags dem Hund Schneebälle zu, mittags schmückten Gästekinder die Fichte. Am Nachmittag erinnerte der Hotelwirt rotbäckig und freudestrahlend an die Christmette vor dem Abendessen – in der kleinen Kapelle nebenan. Später tönte vielstimmig „Stille Nacht“vom Kirchlein herüber. Als es endete, ging ich mit klopfendem Herzen zum Essen. Dutzende goldene Lichtlein. Und ich mittendrin. An den Tischen saßen alle beieinander: Singles, Familien, Paare. Auch eine Mutter, alleinerziehend mit Sohn. Es wurde eins der besinnlichsten Weihnachten, die ich je erlebt habe. Mit fremden Menschen, denen ich danach nie wieder begegnet bin. Doch einen Abend waren wir füreinander Familie. Weil jeder willkommen war bei dieser Stubenweihnacht. Ich glaube, das ist Weihnachten. Das. Und ganz viele Kerzen.
Autorin Andrea Mertes hat die Tradition der Stubenweihnacht fortgeführt. Mit immer anderen Freunden, vielen Kerzen – und ihrem Hund. Nicht so romantisch wie am Berg, aber auch nicht so vollgepackt mit Erwartungen wie zu Beziehungstagen.
„MEIN BRUDER FAND DIE GESCHENKE – ZU FRÜH“
Bis heute weiß ich nicht, wie meine Eltern es jedes Jahr geschafft haben, heimlich die Geschenke vor die Haustür zu legen – obwohl meine zwei Geschwister und ich sie den ganzen Tag nicht aus den Augen ließen! Ich vermute eine Kooperation mit den Nachbarn. An diesem einen Tag aber hat es mein Bruder, damals elf Jahre alt, nicht mehr ausgehalten vor Neugierde. Er lugte kurz nach der Kirche einfach vor die Wohnungstür. Und da lagen sie. Die Geschenke. Obwohl sie da eigentlich noch gar nicht hätten liegen dürfen. Schließlich hatten wir noch nicht gegessen, die Christbaumkerzen angezündet, Weihnachtslieder gesungen, war mein Vater noch nicht kurz aufs Klo verschwunden, hatte noch nicht das Glöckchen geklingelt, waren wir noch nicht aufgeregt zum Fenster gerannt, um das Christkind wegfliegen zu sehen, das die Geschenke laut Eltern eigentlich brachte … Die Entdeckung meines Bruders stieß außer bei ihm gar nicht auf Begeisterung. Mein Vater war grantig. Lauthals. Meine Mutter auch. Weil Papa grantig war – und weil nun wohl auch ihr jüngstes Kind den Glauben ans Christkind zu verlieren schien. Die festliche Stimmung war dahin – und kehrte erst sehr viel später am Abend wieder ein. Mein Bruder saß dann glücklich vor seinem neuen LegoBaukasten, mein Vater blätterte in seinem neuen Kochbuch. Aber seither sprechen wir jedes Jahr wieder von dieser Weihnacht vor zehn Jahren, als mein Bruder zu früh die Tür öffnete. Das Erzählen dieser Geschichte gehört mittlerweile zu unserer Weihnachtstradition, ebenso wie die Tatsache, dass mindestens einmal der Staubsauger ausgepackt werden muss, weil ich in meiner Rolle als
Familientollpatsch mal wieder eine Christbaumkugel fallen gelassen habe. Oder meiner Schwester fünf Minuten vor der Bescherung einfällt, dass sie ihre Geschenke noch einpacken muss und der Tesa-roller unauffindbar ist. Diese Anekdoten‚ sie machen unser Weihnachten aus. Weil sie so viel über unsere Familie aussagen, in der Heiligabend nie ohne die eine oder andere Auseinandersetzung vonstattengeht, sich aber alle wieder einkriegen – und eigentlich ziemlich lieb haben.
Redakteurin Marisa Gold
ist mittlerweile selbst Mutter eines dreijährigen Jungen. Bei dem besteht Hoffnung, dass der Glaube ans Christkind noch eine Weile anhält.
„OHNE MAMA WAR ALLES ANDERS“
Wir wussten schon bei der Planung des 24.12., dass wir eigentlich nur verlieren konnten. Und zwar gegen unsere Mutter. Nicht mal der Weihnachtsmann hätte Irmtraud Kleis in Sachen maximal üppiger Fest-gestaltung das Wasser reichen können. Jetzt war sie, wie man sagt, „nach kurzer, schwerer Krankheit“gestorben und wir mussten das erste Mal zwei Dinge tun, die wir bis dahin für undenkbar gehalten hatten: in ihre übergroßen Weihnachtstraum-fußstapfen treten und aushalten, dass wir nie mehr würden mit ihr feiern können. Meine Schwester und ich übernahmen also die Christmas-fachbereiche „Deko“und „Sättigungsbeilage“. Sie den Weihnachtsbaumschmuck. Ich die Tannenbeschaffung. Sie die Sauce. Ich die Knödel. Und mein Vater hatte sich mit 85 Jahren und nach jahrzehntelanger Herd-abstinenz eigenmächtig zum Entenbraten-beauftragen erklärt. Wir hatten nichts dagegen.
Weil nun ohnehin schon alles anders war, luden wir zum ersten Mal auch ein Nichtfamilienmitglied ein. Eine Freundin, die ebenfalls vor Kurzem ihre Mutter verloren und so gar keine Angehörigen mehr hatte. Betreten und mit dem festen Vorsatz, nicht zu heulen, versammelten wir uns am Tag dieses ersten mutterlosen Festes im Weihnachtszimmer. Der Baum war wunderbar geschmückt, der Tisch „wie immer“gedeckt mit der von der Großtante bestickten Weihnachtsdecke und dem „guten“Service. Feierlich erhob meine Schwester ihr Glas und sagte mit Blick auf die Pracht: „Sie ist ja immer noch da!“Da heulten wir doch ein bisschen. Seitdem feiern wir alle Jahre wieder so:
meine Schwester, ich, unsere Männer, meine Freundin, mein Bruder, seine Frau, mein Vater und die Erinnerung an meine Mutter. Dann denke ich: „Ja, genau das ist der Sinn von Weihnachten, denen nahe zu sein, die wir im Herzen tragen, und trotzdem dort auch Platz für Neues zu schaffen.“Für neue Menschen unter der Tanne so-wie für neue Erfahrungen. Solche wie die, dass mein Vater tatsächlich einen geradezu fantastischen Entenbraten zubereiten kann.
Autorin Constanze Kleis
und ihr Weihnachts-dream-team feiern seitdem den 24.12. auch als Fest der Liebe zu den Müttern, weil sie gezeigt haben, worum es eigentlich geht: füreinander da zu sein.
„ICH LAG MIT SCHWEINEGRIPPE IM BETT“
Es war der 23.12., nachmittags. Ich hatte hohes Fieber, krasse Glieder- und Halsschmerzen plus einen Husten, bei dem ich fürchtete, dass meine Rippen brechen. Dazu unnötigerweise Durchfall. Es war immer noch so schlimm wie vor zwei Tagen beim Arzt. Mein Telefon klingelte. „Ihr Abstrich hat ergeben: Influenza-a-virus H1N1. Schweinegrippe“, konstatierte er. „Sieben Tage Quarantäne.“Weihnachten alleine? Ich heulte. Weil ich doch zu meiner Schwester wollte: Alle kommen, es gibt Kartoffelsalat, Würstl, Singen, Schwager und Neffe spielen Klavier, echte Kerzen am Baum, Feuer im Kamin, allen ist wohlig warm – nicht nur wegen der Zimmertemperatur. Und mir? Ging es richtig schlecht. Nicht nur wegen der Schweinegrippe. Ich zog die Decke höher. Da klingelte es an der Tür. Mein Vater stellte einen Karton Rotwein als Geschenk am Treppenabsatz unterhalb meiner Tür ab, rief, er müsse weiter. Zu Andrea. „Gute Besserung! Bussis, auch von Mama!“Wenigstens einer, der sich zeigte – verständlicherweise mit Abstand. Ich fühlte mich nicht mehr gar so allein. Zehn Minuten später klingelte es wieder. Meine Schwester. Mit Einmalgummihandschuhen und Mundschutz kam sie in meine Wohnung – anstatt in die Kirche zu gehen. Sie brachte mir ein Geschenk. Aber viel wichtiger: Sie umarmte mich, geleitete mich zur Couch, stopfte die Decke um mich herum fest. Streichelte mir über den Kopf. „Du arme Wurst“, sagte sie. „Wie doof! Das holen wir nach. Wir machen noch mal eine Feier, okay?“Sie stapelte DVDS neben mir, zog den Player zur Couch. „Und jetzt mache ich dir einen frischen Tee.“30 Minuten war sie da. Dann musste sie los. Aber sie hatte mein Weihnachten gerettet. Jedes Jahr denken wir an meine Schweinegrippe. Ich, weil ich weiß: Egal, was kommt, ich bin nie allein. Und alle anderen, weil meine Schwester jedes Jahr Anfang Dezember sagt: „Hoffentlich wirst du nicht wieder krank, Heikili.“Und dann sind wir sehr dankbar, dass alle gesund sind.
Stv. Text-ressortleitung Heike Steiner
hat seitdem nur einmal noch beim großen Fest gefehlt. Der Anlass war aber schön: die Geburt ihrer zweiten Tochter Mitte Dezember.