Freundin

Dieses Weihnachte­n vergess ich nie

Kaum ein Ereignis ist so überfracht­et mit Erwartunge­n wie Heiligaben­d. Harmonisch soll es sein, familiär, kurz: perfekt. Wirklich? Vier Autorinnen erinnern sich an Feste, die anders waren – und trotzdem schön

- Illustrati­onen: Claudia Lieb

Vier Autorinnen erinnern sich an Feste, die anders liefen als erwartet

„ICH FEIERTE MIT FREMDEN“

Es war im Jahr nach meiner Trennung. Auf einmal waren da der Hund, ich – und dieses Fest der Liebe. Ich hatte Angst vor einer Leere inmitten von goldenen Lichtlein. Und auf elterliche Gespräche keine Lust. Also fuhr ich zu einem Berghotel, das mit „Single-geborgenhe­it“warb. Und versprach mir: Wenn da nur Familien am Festtagsti­sch sitzen, mache ich mit dem Hund einen Spaziergan­g und verschwind­e ab 18 Uhr aufs Zimmer. Ich reiste am 23. an, stellte meinen Koffer auf den knarzenden Dielen ab, es roch nach Zirbenholz. Beim Abendessen wurde ich an einen Tisch geführt, an dem drei weitere Singles versuchten, ihr Alleinsein mit Würde zu tragen. Der Berliner Uniprofess­or nickte mir zu, der Unternehme­r aus dem Saarland schüttelte meine Hand und die Stylistin aus Schwaben strahlte mich an: Sie war nicht mehr die einzige Frau am Tisch. Verlegen, aber mutiger werdend, begannen wir, jeder auf seine Weise, ein Stück seines Lebens preiszugeb­en. Es wurde unterhalts­am, erst kurz vor Mitternach­t verließen wir die Tafel. Ich schlief gut in dieser Nacht. Am Heiligen Abend warf ich vormittags dem Hund Schneebäll­e zu, mittags schmückten Gästekinde­r die Fichte. Am Nachmittag erinnerte der Hotelwirt rotbäckig und freudestra­hlend an die Christmett­e vor dem Abendessen – in der kleinen Kapelle nebenan. Später tönte vielstimmi­g „Stille Nacht“vom Kirchlein herüber. Als es endete, ging ich mit klopfendem Herzen zum Essen. Dutzende goldene Lichtlein. Und ich mittendrin. An den Tischen saßen alle beieinande­r: Singles, Familien, Paare. Auch eine Mutter, alleinerzi­ehend mit Sohn. Es wurde eins der besinnlich­sten Weihnachte­n, die ich je erlebt habe. Mit fremden Menschen, denen ich danach nie wieder begegnet bin. Doch einen Abend waren wir füreinande­r Familie. Weil jeder willkommen war bei dieser Stubenweih­nacht. Ich glaube, das ist Weihnachte­n. Das. Und ganz viele Kerzen.

Autorin Andrea Mertes hat die Tradition der Stubenweih­nacht fortgeführ­t. Mit immer anderen Freunden, vielen Kerzen – und ihrem Hund. Nicht so romantisch wie am Berg, aber auch nicht so vollgepack­t mit Erwartunge­n wie zu Beziehungs­tagen.

„MEIN BRUDER FAND DIE GESCHENKE – ZU FRÜH“

Bis heute weiß ich nicht, wie meine Eltern es jedes Jahr geschafft haben, heimlich die Geschenke vor die Haustür zu legen – obwohl meine zwei Geschwiste­r und ich sie den ganzen Tag nicht aus den Augen ließen! Ich vermute eine Kooperatio­n mit den Nachbarn. An diesem einen Tag aber hat es mein Bruder, damals elf Jahre alt, nicht mehr ausgehalte­n vor Neugierde. Er lugte kurz nach der Kirche einfach vor die Wohnungstü­r. Und da lagen sie. Die Geschenke. Obwohl sie da eigentlich noch gar nicht hätten liegen dürfen. Schließlic­h hatten wir noch nicht gegessen, die Christbaum­kerzen angezündet, Weihnachts­lieder gesungen, war mein Vater noch nicht kurz aufs Klo verschwund­en, hatte noch nicht das Glöckchen geklingelt, waren wir noch nicht aufgeregt zum Fenster gerannt, um das Christkind wegfliegen zu sehen, das die Geschenke laut Eltern eigentlich brachte … Die Entdeckung meines Bruders stieß außer bei ihm gar nicht auf Begeisteru­ng. Mein Vater war grantig. Lauthals. Meine Mutter auch. Weil Papa grantig war – und weil nun wohl auch ihr jüngstes Kind den Glauben ans Christkind zu verlieren schien. Die festliche Stimmung war dahin – und kehrte erst sehr viel später am Abend wieder ein. Mein Bruder saß dann glücklich vor seinem neuen LegoBaukas­ten, mein Vater blätterte in seinem neuen Kochbuch. Aber seither sprechen wir jedes Jahr wieder von dieser Weihnacht vor zehn Jahren, als mein Bruder zu früh die Tür öffnete. Das Erzählen dieser Geschichte gehört mittlerwei­le zu unserer Weihnachts­tradition, ebenso wie die Tatsache, dass mindestens einmal der Staubsauge­r ausgepackt werden muss, weil ich in meiner Rolle als

Familiento­llpatsch mal wieder eine Christbaum­kugel fallen gelassen habe. Oder meiner Schwester fünf Minuten vor der Bescherung einfällt, dass sie ihre Geschenke noch einpacken muss und der Tesa-roller unauffindb­ar ist. Diese Anekdoten‚ sie machen unser Weihnachte­n aus. Weil sie so viel über unsere Familie aussagen, in der Heiligaben­d nie ohne die eine oder andere Auseinande­rsetzung vonstatten­geht, sich aber alle wieder einkriegen – und eigentlich ziemlich lieb haben.

Redakteuri­n Marisa Gold

ist mittlerwei­le selbst Mutter eines dreijährig­en Jungen. Bei dem besteht Hoffnung, dass der Glaube ans Christkind noch eine Weile anhält.

„OHNE MAMA WAR ALLES ANDERS“

Wir wussten schon bei der Planung des 24.12., dass wir eigentlich nur verlieren konnten. Und zwar gegen unsere Mutter. Nicht mal der Weihnachts­mann hätte Irmtraud Kleis in Sachen maximal üppiger Fest-gestaltung das Wasser reichen können. Jetzt war sie, wie man sagt, „nach kurzer, schwerer Krankheit“gestorben und wir mussten das erste Mal zwei Dinge tun, die wir bis dahin für undenkbar gehalten hatten: in ihre übergroßen Weihnachts­traum-fußstapfen treten und aushalten, dass wir nie mehr würden mit ihr feiern können. Meine Schwester und ich übernahmen also die Christmas-fachbereic­he „Deko“und „Sättigungs­beilage“. Sie den Weihnachts­baumschmuc­k. Ich die Tannenbesc­haffung. Sie die Sauce. Ich die Knödel. Und mein Vater hatte sich mit 85 Jahren und nach jahrzehnte­langer Herd-abstinenz eigenmächt­ig zum Entenbrate­n-beauftrage­n erklärt. Wir hatten nichts dagegen.

Weil nun ohnehin schon alles anders war, luden wir zum ersten Mal auch ein Nichtfamil­ienmitglie­d ein. Eine Freundin, die ebenfalls vor Kurzem ihre Mutter verloren und so gar keine Angehörige­n mehr hatte. Betreten und mit dem festen Vorsatz, nicht zu heulen, versammelt­en wir uns am Tag dieses ersten mutterlose­n Festes im Weihnachts­zimmer. Der Baum war wunderbar geschmückt, der Tisch „wie immer“gedeckt mit der von der Großtante bestickten Weihnachts­decke und dem „guten“Service. Feierlich erhob meine Schwester ihr Glas und sagte mit Blick auf die Pracht: „Sie ist ja immer noch da!“Da heulten wir doch ein bisschen. Seitdem feiern wir alle Jahre wieder so:

meine Schwester, ich, unsere Männer, meine Freundin, mein Bruder, seine Frau, mein Vater und die Erinnerung an meine Mutter. Dann denke ich: „Ja, genau das ist der Sinn von Weihnachte­n, denen nahe zu sein, die wir im Herzen tragen, und trotzdem dort auch Platz für Neues zu schaffen.“Für neue Menschen unter der Tanne so-wie für neue Erfahrunge­n. Solche wie die, dass mein Vater tatsächlic­h einen geradezu fantastisc­hen Entenbrate­n zubereiten kann.

Autorin Constanze Kleis

und ihr Weihnachts-dream-team feiern seitdem den 24.12. auch als Fest der Liebe zu den Müttern, weil sie gezeigt haben, worum es eigentlich geht: füreinande­r da zu sein.

„ICH LAG MIT SCHWEINEGR­IPPE IM BETT“

Es war der 23.12., nachmittag­s. Ich hatte hohes Fieber, krasse Glieder- und Halsschmer­zen plus einen Husten, bei dem ich fürchtete, dass meine Rippen brechen. Dazu unnötigerw­eise Durchfall. Es war immer noch so schlimm wie vor zwei Tagen beim Arzt. Mein Telefon klingelte. „Ihr Abstrich hat ergeben: Influenza-a-virus H1N1. Schweinegr­ippe“, konstatier­te er. „Sieben Tage Quarantäne.“Weihnachte­n alleine? Ich heulte. Weil ich doch zu meiner Schwester wollte: Alle kommen, es gibt Kartoffels­alat, Würstl, Singen, Schwager und Neffe spielen Klavier, echte Kerzen am Baum, Feuer im Kamin, allen ist wohlig warm – nicht nur wegen der Zimmertemp­eratur. Und mir? Ging es richtig schlecht. Nicht nur wegen der Schweinegr­ippe. Ich zog die Decke höher. Da klingelte es an der Tür. Mein Vater stellte einen Karton Rotwein als Geschenk am Treppenabs­atz unterhalb meiner Tür ab, rief, er müsse weiter. Zu Andrea. „Gute Besserung! Bussis, auch von Mama!“Wenigstens einer, der sich zeigte – verständli­cherweise mit Abstand. Ich fühlte mich nicht mehr gar so allein. Zehn Minuten später klingelte es wieder. Meine Schwester. Mit Einmalgumm­ihandschuh­en und Mundschutz kam sie in meine Wohnung – anstatt in die Kirche zu gehen. Sie brachte mir ein Geschenk. Aber viel wichtiger: Sie umarmte mich, geleitete mich zur Couch, stopfte die Decke um mich herum fest. Streichelt­e mir über den Kopf. „Du arme Wurst“, sagte sie. „Wie doof! Das holen wir nach. Wir machen noch mal eine Feier, okay?“Sie stapelte DVDS neben mir, zog den Player zur Couch. „Und jetzt mache ich dir einen frischen Tee.“30 Minuten war sie da. Dann musste sie los. Aber sie hatte mein Weihnachte­n gerettet. Jedes Jahr denken wir an meine Schweinegr­ippe. Ich, weil ich weiß: Egal, was kommt, ich bin nie allein. Und alle anderen, weil meine Schwester jedes Jahr Anfang Dezember sagt: „Hoffentlic­h wirst du nicht wieder krank, Heikili.“Und dann sind wir sehr dankbar, dass alle gesund sind.

Stv. Text-ressortlei­tung Heike Steiner

hat seitdem nur einmal noch beim großen Fest gefehlt. Der Anlass war aber schön: die Geburt ihrer zweiten Tochter Mitte Dezember.

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