Wie ich wieder lernte, Klassik zu lieben
Unsere Autorin hört statt Beethoven lieber Blur. Aber verpasst man da nicht etwas und kann man sich in die Klänge von Opern und Sinfonien irgendwie „einhören“? Eine Reise in die wunderbare Welt der Klassik
Bach, Beethoven, Mozart - unsere Autorin hörte sich ein in in die Welt der Opern und Sinfonien
Leise schluchzt die Geige, säuselt, jauchzt auf. Die Hand des Violinisten flitzt über die Saiten, so rasant, dass ich sie nicht verfolgen kann. „La Stravaganza, Concerto B-dur“, lese ich auf dem Zettel. Die harte Kirchenbank drückt, neben mir wird andächtig gelauscht. Mir fällt das noch schwer. Zu lange hatte ich nichts mehr zu tun mit dieser Art von Musik. Wenn ich mit den Kopfhörern durch die Straßen laufe, höre ich Indie-rock. Nie komme ich nach Hause und sage: „Alexa, spiel bitte das ,Klavierkonzert Nr. 1 d-moll‘ von Brahms.“
Klassik – das erinnert mich an Sonntagvormittage als Kind, wenn das Radio meiner Oma wisperte. Meine Eltern gingen gern ins Konzert. Meine Mutter sagte aber Sätze wie: „Heute haben wir Karten für eine Haydn-sinfonie. Wahrscheinlich schläft der Vater nach dem 1. Satz ein. Hoffentlich schnarcht er nicht.“Am Heiligabend durften wir erst unsere
Geschenke auspacken, wenn mein Vater die Platte mit dem „Weihnachsoratorium“von Bach aufgelegt hatte. Jauchzet, frohlocket. Bei mir läuft zu Weihnachten Christmas-swing. Ich bin der Klassik entwöhnt. Die erinnert mich an Werbung für Pizza oder an Gedudel in der Hotellobby. Aber gerade jetzt zum Jahresende, wo Musik mich herausholen soll aus dem alltäglichen Wahnsinn, denke ich verstärkt über Klassik nach. Vielleicht entgeht mir da etwas?
„Diese Musik ist überirdisch, das Schönste, was der Mensch erschaffen kann“, schwärmt mir meine Freundin Caro vor. Sie setzt sich nach einem Bürotag auch mal ins Auto und düst von München nach Salzburg, um dort einer mehrstündigen Opernvorführung zu lauschen. „Es ist ein Abtauchen in eine andere Welt“, beschreibt sie mir die Faszination. „Und Klassik ist längst nicht mehr so oll wie früher! Es gibt Aufführungen mit einem Bühnenbild, da kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus…“In der Tat gehen heute junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren genauso gern zu Klassik-events wie Musikliebhaber über 60. Und über ein Drittel der Hörer von Mozart & Co. ist jünger als 30 Jahre, wie eine aktuelle Studie im Auftrag des Streaming-dienstes Idagio herausfand. „Die Klassikszene hat sogar mehr Zuschauer als die erste Bundesliga!“, behauptet Jens Berger, Autor und Musikexperte („111 Gründe, klassische Musik zu lieben“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 12,99 Euro). „Noch nie gab es so viel spannende klassische Musik wie heute und so tolle, gut ausgebildete Interpreten!“Dazu kommt, dass der Zugang immer einfacher wird, findet er. Die Musik-streamingdienste haben das Genre für sich entdeckt, der Streaminganteil der Klassik wächst, liegt 2019 bereits bei zwölf Prozent. Statt also einen Klassiksender im Radio einzustellen (mache ich nie) oder eine CD zu kaufen (was bloß?), suche ich das Passende einfach bei Spotify und Youtube.
„Die Moldau“von Smetana etwa. Die kenne ich noch aus dem Musikunterricht und macht mir sofort gute Laune. Mit der Empfehlung von Caro, mir „Rusalka“-arien anzuhören, komme ich dagegen an meine Grenzen. Zu viel Koloratur, ich finde, die Stimmen schrauben sich in allerhöchste Lagen. Vielleicht kenne ich mich einfach nicht gut genug aus? Mir fällt ja schon schwer zu sagen, was Klassik eigentlich ist. Fängt das mit Bach an? „Jeder, der ein Lied singen kann, versteht auch etwas von Klassik“, beruhigt mich Jens Berger. „Man muss nicht erkennen, ob das gerade cis-moll ist. Klassik soll Spaß machen.“
München, eine kleine Galerie in Schwabing: An den Wänden hängt abstrakte Kunst, am Klavier sitzt Florian Christl, spielt Eigenkompositionen wie „Fly“. Unter den Zuschauern viele junge Frauen, es ist unglaublich still, niemand fummelt am Smartphone. Christl gehört zu den Vertretern der sogenannten „Neo-klassik“, wie Ludovico Enaudi oder Yann Tiersen, dessen Werke eher wie Filmmu
Ich falle aus der Zeit, es ist fast wie eine Meditation
sik klingen. Die Töne perlen, Christls Melodien tragen mich weg, ich falle aus der Zeit, es ist fast wie eine Meditation. Christl, 29 Jahre alt, liebt Klassikkomponisten wie Mendelssohn oder Vivaldi: „Aber ich will Freiheit, ohne Zwänge und theoretische Raster. Mir geht es um Melodien, Leidenschaft, Emotionen.“Christl stellt sein Klavier auch in Parks oder Fußgängerzonen auf. Und schafft es damit, Passanten zu berühren, die sonst nur Lady Gaga hören. Pianomusik auf der Straße, Vivaldi in Nachtclubs, „Karneval der Tiere“im Zoo – es ist gerade diese zwanglose Art des Hörens, die auch mich einfängt. „Klassik sollte man live sehen“, findet auch Holger Wemhoff. „Weil der Entstehungsprozess so unglaublich spannend ist.“Wemhoff, ein studierter Opernregisseur, unterhält den Podcast „Lass uns über Klassik reden“. Berühmte Künstler wie Anne-sophie Mutter kommen zu Wort, vor Kurzem sprach Dirigent Daniel Barenboim bei ihm die schönen Worte: „Musik erlaubt uns, Sachen zu fühlen, die man ohne Musik nicht fühlen kann.“
Ist es das, was ich fühle, wenn ich Vivaldi in der Hofkapelle der Münchner Residenz lausche? Die Kirchenbank drückt. Doch irgendwann vergesse ich das. Es ist, als würde eine Saite in mir gezupft, die sonst still ist. Im Büro lasse ich die Klänge über Spotify noch mal ablaufen. Vivaldis „Nisi Dominus“dringt auf den Gang. „Was ist das?“, fragt mich eine Kollegin. „Das klingt schön.“Und die Welt hält für einen kurzen Moment den Atem an.