Im falschen Leben
Was passiert, wenn eine vierfache Mutter an den eigenen Ansprüchen scheitert und alles hinwirft?
Schweißgebadet schreckt Sabine Kemmann mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Ihr Herz rast, sie bekommt kaum Luft, spürt riesigen Druck auf der Brust. In ihrer Panik weiß sie nicht, was gerade passiert. Eigentlich weiß sie überhaupt nichts mehr, nur eines steht für sie so fest wie das Amen in der Kirche: Das Leben, das sie bis hierhin geführt hat, ist vorbei. In ihren Alltag als Hausfrau, Ehefrau und Mutter von vier Kindern kann sie nicht mehr zurück. Eine Erkenntnis, die Sabine von jetzt auf gleich den Boden unter den Füßen wegreißt.
Diese Geschichte handelt von einer Frau, die an nichts Geringerem scheitert als an ihrem eigenen Ideal vom Familienleben. Einer Frau, die radikal den Reset-knopf drückt. Es geht nebenbei auch um einen Ehemann und Kinder, für die sich alles ändert. Es geht um den Verlust von Geborgenheit und Sicherheit und den ungeheuren Mut, noch mal komplett von vorne zu beginnen.
Nur noch ein paar Schritte durch den Vorgarten und wir werden erfahren, dass das Abenteuer unserer Heldin gut ausgeht. Schon bevor die 51-Jährige die Tür zu ihrem stattlichen Haus bei Hannover öffnet, in dem sie mit ihrem zweiten Mann lebt, ist ihr lautes Lachen zu hören. Sabine redet schnell und viel, bewegt sich flink durch die offenen, hellen und doch gemütlichen Räume. Der riesige Garten ist liebevoll gepflegt. Nur Zimt und Zucker, zwei herumwuselnde, winzige russische Schoßhunde, verbreiten schwanzwedelnd Unruhe. Sabine lacht und hebt einen der beiden auf ihren Schoß. Dabei werden ihre Augen ganz klein, die Gesichtszüge sanft und kleine Lachfältchen kommen zum Vorschein. Mit ihrem offenen Blick und ihrem aufrechten Sitz wirkt sie selbstbewusst und gelassen. Genau das Gegenteil von der ohnmächtigen, überforderten Frau, die sie früher einmal gewesen sein muss. Heute kann sie ihre Dämonen allerdings auch in Schach halten. Und: Sabine Kemmann lebt mittlerweile genau das Leben, das sie leben will. Und so kam es dazu:
Sabine wächst in einem katholischen Akademikerhaushalt in Nordrhein-westfalen auf. Mit 22 Jahren heiratet sie und bekommt noch während ihres Studiums ihren ersten Sohn. Die Schwangerschaft ist kein Unfall, sondern eine bewusste Entscheidung für die Familie. „Ich dachte, ich würde das schon wuppen mit dem Referendariat und einem Kind. Meine Mama wollte mir ja mit der Betreuung helfen.“Ihre Mutter stirbt jedoch noch vor der Geburt ihres Sohnes. Weil Sabine meint, dass nur die Eltern oder Großeltern ein Kind betreuen sollen, fällt sie eine Entscheidung: erst mal Kinder und irgendwann dann auch mal Beruf. Vielleicht. Eine gute Mutter zu sein, hat absolute Priorität. Während ihr Mann eine klassische Managerkarriere macht, hält sie zu Hause die Stellung. Das Paar bekommt zwei weitere Söhne und eine Tochter. Die bewusste Entscheidung gegen einen Job entlastet viele Frauen, Sabine macht sich zusätzlich Druck nach der Devise: Wer nicht ins Büro geht, muss wenigstens zu Hause perfekt performen. Bei den Hausaufgaben helfen, Nachhilfe organisieren, die Kinder zum Ballett, Judo oder Musikunterricht
chauffieren, an Elternabenden in der Schule teilnehmen, sich engagieren … Überall gilt Sabine als Supermutter. Mit jedem Kind vergrößert sich die Familie räumlich und zieht endlich in ein frei stehendes Haus mit Garten. Nun ist alles erreicht, was Sabine sich immer gewünscht hat.
Mit Mitte 30 ändert sich die Situation. Weil Sabine mehr und mehr darunter leidet, keinem Beruf nachzugehen, beginnt sie, an einer katholischen Schule Religion zu unterrichten und religionspädagogische Fortbildungen zu leiten. Das bringt allerdings nicht wie erhofft neuen Schwung in den etwas eingefahrenen Alltag. Sabine fühlt sich immer öfter angestrengt und überfordert von all ihren Aufgaben. Erst wenn die Kinder abends versorgt und im Bett sind, fühlt sie so etwas wie Erleichterung. Wieder einen Tag geschafft. Niemand, der was von ihr will.
Andere würden nun die Füße hochlegen, doch Sabine erlaubt sich das nicht. Sie stellt lieber aufräumend und putzend die Ordnung wieder her – damit das System Vorzeige-familie am nächsten Tag wieder reibungslos funktionieren kann. Ihr unbändiger Wille, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, trägt sie. Noch. Aber was von außen ganz normal wirkt, ist längst nicht mehr normal. Sabine läuft wie ferngesteuert durch den Tag. Sie ist zwar körperlich noch anwesend, doch während sie wäscht, putzt, einkauft, kocht, mit den Kindern spielt und lernt oder mit
»Das Hauptproblem war, dass weder Raum noch
Zeit für mich übrig blieb«
dem Gatten bei Freunden feiert, spult sie innerlich kalt und gefühllos wie ein Roboter lediglich ein Programm ab. Während Sabine von ihrem Leben erzählt, macht sie immer wieder kleine Pausen, überlegt, wie sie am besten ausdrücken kann, was sie damals empfunden hat, und sagt dann einen Satz, der an nüchterner Untertreibung kaum zu unterbieten ist: „Ich glaube, das Hauptproblem war, dass ich weder Raum noch Zeit für mich übrig hatte.“
Vermutlich hätte sich Sabine ewig so weitergeschleppt. Aber die totale Erschöpfung und Überforderung einerseits sowie eine erwachende Lust auf ein neues Leben andererseits zwingen sie zu Auseinandersetzungen mit sich selbst. Sabine liebt ihre Familie, aber sie weiß, dass sie keinerlei Kraft mehr hat, um auch nur annähernd so zu funktionieren wie bisher. Eigentlich will sie weder ihren Mann, schon gar nicht die Kinder verlassen, aber sie muss sich eingestehen, dass es so nicht weitergehen kann. Mit all dem, was ihr bislang etwas bedeutet hat, kann es nicht geben, was sie jetzt braucht: einen totalen Neustart. Sabine braucht dringend Hilfe.
„Ich wusste: Entweder springe ich jetzt von der Brücke oder ich hole mir Unterstützung. Das war das Schlimmste, dass ich zugeben musste, dass ich die Kontrolle verloren hatte.“Nach ihrer nächtlichen Angstattacke weist sich
Sabine selbst in eine Klinik ein. Unter therapeutischer Anleitung lernt sie, ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu vertrauen. Und: dass man sich seinen Ängsten stellen muss, wenn man sie überwinden will. Sabine entscheidet, ihre Familie, zumindest räumlich, zu verlassen. Den Schmerz darüber lernt sie zu ertragen, auch weil sie weiß: „Wenn ich zurückginge, würde ich vor die Hunde gehen.“
Nach ihrer Entlassung aus der Klinik zieht Sabine aus dem Haus und dem Leben aus, das sie sich so lange erträumt hatte. Eine Zeit lang versorgt sie tagsüber noch die Kinder in der vertrauten Umgebung. Abends fährt sie in ihr neues Zuhause ein paar Kilometer entfernt. Für die Kinder wird diese Lösung jedoch zunehmend zur Belastung, sie sind verwirrt, verstehen die Welt nicht mehr: Mama ist zwar wie gewohnt da, wohnt aber woanders? Es folgt eine Phase, in der sie ihre Mutter in deren eigener Wohnung besuchen können, wenn sie es denn möchten. Sabine erzählt, wie sie die Schuldgefühle zu ersticken drohten, aber sie hält ihren Kurs. Sabines Mann und Vater der Kinder gibt sich während all der Zeit die größte Mühe. Er zeigt Verständnis, hält seiner Frau immer alle Türen auf, macht ihr nie einen Vorwurf. Nachbarn, Freunde und Bekannte schütteln den Kopf, was da wohl los ist? Sabine beginnt ihren Neuanfang mit einem weiteren couragierten Schritt. Sie stellt sich ihrer größten Angst: dem Tod. Wer Angst vor dem Tod hat, hat auch Angst vor dem Leben. „Wenn ich mich mit dem Tod anfreunden kann, kann mir nichts mehr passieren“, hofft Sabine und beginnt eine Ausbildung als Sterbebegleiterin im Hospiz.
»Ich wusste: Entweder ich springe jetzt von der Brücke oder ich hole mir Hilfe«
Und: Sie lernt einen anderen Mann kennen und verliebt sich neu. Drei Jahre Fernbeziehung später kommt dann der Moment, der so lange unvorstellbar gewesen wäre. Sie beschließt, für die neue Liebe 300 Kilometer weit weg zu ziehen. Weg von dem Ort, an dem alles zerbrach. Ihre Kinder möchte sie natürlich am liebsten mitnehmen. Doch Sabine muss lernen, dass sie ihnen diese Entscheidung nicht aufzwingen kann. „Zuerst mochten alle mit mir mit.“Als ihr ältester Sohn aber aufgrund seines Abiturs das Bundesland nicht wechseln kann, wollen alle Geschwister zusammen beim Papa bleiben. Sogar die 10-jährige Paula. „Sie hat mich angeschaut und gesagt: ,Mama, ich hab dich lieb, aber ich bleibe. Hier sind meine Freunde und meine Brüder.‘“Sabine stockt, holt Luft. „Ich muss mal kurz atmen.“
Sabine zieht um. Trotz innerer Zerrissenheit, trotz neuer Schuldgefühle, trotz der Ablehnung aller. Freunde, Bekannte, sogar die eigenen Geschwister sagen Sabine, dass sie ihre Entscheidung für falsch halten. „Kinder gehören zumindest in die Nähe der Mutter!“, „Wie herzlos und egoistisch muss eine Frau sein, die die eigenen Kinder so im Stich lässt?“Nur zehn Prozent der vom Partner getrennten Mütter in Deutschland verlassen ihre Familien. Der soziale Druck, der auf ihnen lastet, ist enorm. Sabine versucht, einen neuen Weg als Mutter zu finden. Man kann einander schließlich besuchen, außerdem halten Mutter und Kinder telefonierend Kontakt. Sonderbar, trotz der Entfernung fühlt sich Sabine ihren Kindern so unendlich viel näher und verbundener als früher. Und sie kann endlich neue Lebensfreude empfinden.
Geholfen hat Sabine dabei ein Clown. Ein Clown, den sie in sich selbst geweckt hat. In einer zweijährigen Ausbildung in einer Clownsschule entwickelt Sabine ihr Alter Ego, den Charakterclown Motte. Motte ist keiner, der Kunststücke macht oder plump in zu großen Schuhen durch die Gegend stolpert. Ein Charakterclown arbeitet mit den Emotionen, die ihn geprägt haben. Um herauszufinden, was sie geprägt hat, muss Sabine sich ihrer Vergangenheit stellen, „was sehr schmerzhaft war, ich habe so viel geweint“. Es gelingt Sabine durch die Arbeit an der Figur Motte jedoch, ihre agile und lustige Seite wiederzubeleben, die so lange verloren war. Wenn Sabine von Motte erzählt, beginnen ihre Augen zu leuchten, sie richtet sich auf dem hellen Sofa groß auf. Mottes Outfit besteht meist aus einer rot karierten Latzhose und der passenden Schiefermütze. Motte summt gerne. Als Klinikclown auf der onkologischen Kinderstation fängt Motte Tränen ihrer kleinen Patienten auf und bringt sie zur Blumenvase, sie spielt Fangen mit imaginären Spielpartnern oder sie ist einfach nur da.
Sabine deutet auf das Bild, das über der Treppe im Flur hängt. Es zeigt ihre eigenen Kinder. Mittlerweile sind alle erwachsen, bislang hat keines seiner Mutter jemals wirklich Vorwürfe gemacht. Glück gehabt. Sabine setzt ihre Clownsnase auf, betrachtet sich im Spiegel. Ende gut, alles gut? Noch heute kämpft Sabine gegen ihre Ängste. Wenn diese sie zu übermannen drohen, helfen ihr Ausritte auf dem Pferd oder lange Spaziergänge mit Zimt und Zucker. Bei dem Versuch, einem Mütter-idealbild zu entsprechen, das eine bürgerliche Gesellschaft längst vergangener Zeiten erfunden hat, ist sie gescheitert. „Ich musste erst lernen, herauszufinden, was ich will und brauche, um glücklich zu sein“, sagt Sabine. Zehn Jahre hat ihre Krise gedauert. Zehn Jahre, in denen sich Sabine Kemmann neu erfinden musste. Heute arbeitet sie als Klinikclown, Trauerbegleiterin für Kinder und Jugendliche sowie in der Erwachsenenbildung. Jetzt endlich, mit 51 Jahren, fühlt sie sich stabil und glücklich. Lange hat sie geglaubt, sie sei eine schlechte Mutter. Mittlerweile ist Sabine überzeugt: „Ich liebe meine Kinder über alles, und jawohl, ich bin eine gute Mutter.“