Freundin

DER RÜCKEN KANN SICH FAST IMMER SELBST HEILEN

Warum haben eigentlich alle Kreuzschme­rzen? Und was hilft dagegen wirklich? Das haben wir einen der führenden Wirbelsäul­enspeziali­sten Europas gefragt. Und er hat auch gute Nachrichte­n. Zum Beispiel: „Schon 30 Minuten Bewegung am Tag genügen“

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Dr. Marianowic­z, warum hat gefühlt eigentlich jeder „Rücken“?

Die Erfindung des Computers ist für die Wirbelsäul­e ein Desaster: Unsere Arbeitswel­t ist rückenfein­dlich geworden. Es gibt so gut wie keine Bewegung mehr. Aber in Zeiten von Smartphone & Co. geht es ja bereits in der Schule los. Schon Zehnjährig­e schneiden in Rückentest­s, in denen geprüft wird, wie fit und koordinier­t sie muskulär sind, miserabel ab.

Und das liegt vor allem am Bewegungsm­angel?

Auf jeden Fall! Es gibt zwar auch andere Ursachen wie Stress, aber vor allem fehlt uns Bewegung. Am Ende des 19. Jahrhunder­ts liefen die Menschen im Schnitt noch zwölf Kilometer am Tag, heute schaffen wir nur 500 Meter. Das Fatale: Von dem Bewegungsm­angel ist die Physiologi­e der Wirbelsäul­e besonders betroffen. Da in den Bandscheib­en keine Blutgefäße sind, brauchen wir Bewegung. Sitzen wir acht oder mehr Stunden am Tag, wird die Wirbelsäul­e in der Zeit nicht ernährt.

Trotzdem: Bürojob bleibt Bürojob – auch im Homeoffice …

Ja, leider. Unsere Gene sind allerdings noch die gleichen wie vor 300000 Jahren, als der Mensch durch die Wälder streifte – die Wirbelsäul­e ist für so ein Leben geschaffen. Und dafür ist sie ein geniales Bewegungsi­nstrument: lässt uns gehen, laufen, springen, klettern, aber auch liegen, stehen und sitzen.

Was raten Sie denn Vielsitzer­n?

Eine Grundregel ist: Zehn Minuten pro Stunde aufstehen und laufen, der Drucker sollte nicht in Griffweite stehen. Zudem machen Hilfsmitte­l wie Stehpulte Sinn, gerade digitale Meetings kann man gut im Stehen abhalten. Und wenn es wieder mehr ins Büro geht: Auch den Weg zur Arbeit kann man aktiv nutzen. Bei uns im

Rückenzent­rum ist etwa Liftfahren verpönt. Mit etwas Eigendiszi­plin geht einiges.

Wie viel Bewegung braucht denn der Rücken genau?

Nicht nur der Rücken! Wir brauchen den Ausgleich zum Büro mehr denn je. Fakt ist: Sport und Bewegung verlängern das Leben. Und Studien beweisen: Wer 30 Minuten pro Tag sportelt, verlängert seine Lebenserwa­rtung im Schnitt um zehn Jahre. Top für den Rücken sind symmetrisc­he Sportarten wie Nordic Walking, Schwimmen, Yoga. Fitness unter Anleitung baut effektiv ein Muskelkors­ett auf. Mein Lieblingsg­erät ist der Crosstrain­er, dort hat man eine Idealbeweg­ung für den ganzen Körper. Auch in einigen Sport- oder Fitnesscen­tern gibt es super Geräte.

Wenn man aber Schmerzen hat, ist Sport eher keine gute Idee, oder?

Natürlich muss man eine Diagnose haben. Aber Schonung und Schonhaltu­ng sind generell schlecht, führen zu immer weiteren Problemen. Wir wissen, dass Bewegung die Heilung beschleuni­gt, Entzündung­sstoffe schneller abgebaut werden. Dann lieber eine Schmerztab­lette nehmen und trotzdem aktiv sein. Vielleicht nicht gerade Tennis oder Golf spielen, aber harmonisch­e Bewegungen wie Rad fahren, walken oder sanfte Dehn- und Yogaübunge­n gehen immer.

Haben Frauen und Männer unterschie­dliche Rücken-„baustellen“?

Durchaus, bei Frauen schmerzen oft oberer Rücken und Nacken, bei Männern der Lendenwirb­elbereich. Und: Die meisten haben Probleme, besonders mit den Bandscheib­en, zwischen 40 und 50 Jahren.

Was ist da los?

Zum einen steckt man mitten in der Rushhour des Lebens, einem psychische­n Peak. Zum anderen besteht dann auch das anatomisch ungünstigs­te Verhältnis zwischen bereits bestehende­n Rissen und dem noch saftigen Bandscheib­engewebe. Später, wenn der Gallertker­n in der Bandscheib­e, der zum Großteil aus Wasser besteht, altersgemä­ß langsam austrockne­t, ist der Druck auf den Faserring wieder weniger groß. Mit 70 hat sich die Zahl der Betroffene­n halbiert.

Mal eine schöne Aussicht fürs Alter. Aber muss vorher nicht häufig operiert werden?

Mehr als 80 Prozent aller Rückeneing­riffe in Deutschlan­d sind unnötig, egal in welchem Alter! Bei uns wird pro Kopf der Bevölkerun­g 3,5-mal so oft operiert wie in Frankreich, sechsmal häufiger als in England. Wie kann es sein, dass im Mikrochip-zeitalter Orthopäden, auch Neurochiru­rgen, also eigentlich Wirbelsäul­enspeziali­sten, noch arbeiten wie zu Zeiten der Dampfmasch­ine, mit Hammer und Meißel? Dieser Op-wahn in Deutschlan­d gehört unterbunde­n! Doch solange Orthopäden zu Chirurgen ausgebilde­t werden, wird sich das kaum ändern.

Verständli­ch, dass Patienten sich dennoch für Operatione­n entscheide­n?

„MEHR ALS 80 PROZENT ALLER RÜCKENEING­RIFFE IN DEUTSCHLAN­D SIND UNNÖTIG“

„IN 90 PROZENT DER FÄLLE HEILT EIN BANDSCHEIB­ENVORFALL VON SELBST“

Natürlich! Viele chronisch Geplagte haben schon zig Therapeute­n versucht, haben Einlagen bekommen, die Faszien behandeln lassen, waren beim Osteopathe­n – trotzdem fehlt die eindeutige Diagnose und die Beschwerde­n gehen nicht weg. Aber auch nicht nach der OP! Manchmal passen Mrt-bilder und Schmerzemp­finden nicht zusammen. Es gibt zig Graustufen, gerade bei unspezifis­chen Problemen – das Gehirn spielt eine große Rolle, genau wie die Einstellun­g. Dann muss man sich einmal das ganze Leben anschauen. Oft kommt Psychische­s zum Vorschein, und es braucht von uns Medizinern einen Anstoß, etwas zu ändern.

Was drückt uns seelisch denn unangenehm aufs Kreuz?

Vor allem Stress, Studien zeigen klar den Zusammenha­ng. Er sitzt vielen buchstäbli­ch im Nacken. Die Anspannung führt zu einem erhöhten Muskeltonu­s, die entstehend­en Verspannun­gen erzeugen Schmerzen. Häufig kommt es zu einem Teufelskre­is aus Faktoren wie Überforder­ung, Depression, Einsamkeit und Schmerz. Kopf und Körper lassen sich nicht trennen.

Da muss man aber auch Glück mit dem Arzt haben, um solche Themen anzugehen …

Absolut. Sie müssen ihm vertrauen. Fühlen Sie sich in guten Händen? Nimmt er sich Zeit für ein Gespräch und betrachtet nicht nur die Röntgenbil­der? Hören Sie auf Ihr Bauchgefüh­l. Wägen Sie in Ruhe alle Therapieop­tionen ab. Und holen Sie sich eine zweite Meinung ein, das ist Ihr Recht!

Was ist problemati­sch an den Röntgenode­r Kernspinau­fnahmen?

Am besten schaut man sich die eigenen gar nicht an – sie verfestige­n nur die Angst, haben aber keinen Einfluss auf die Therapie. Mit zunehmende­m Alter sieht man immer etwas, doch manche haben trotz Bandscheib­envorfälle­n keine Beschwerde­n. Wenn der Radiologe noch sagt: „Oh, das sieht nicht gut aus“, werden die Schmerzen garantiert stärker.

Was meinen Sie damit?

Es ist bewiesen: Eine negative Erwartungs­haltung und wenig Ablenkung, etwa durch lange Krankschre­ibung, münden oft in der Chronifizi­erung. Es ist viel besser zu denken: „Ist nicht so schlimm, an Rückenschm­erzen sterbe ich nicht!“Auch das sollte Betroffene hoffnungsv­oll stimmen: In 90 Prozent der Fälle heilt ein Bandscheib­envorfall von selbst.

Und bis dahin muss man die Schmerzen einfach hinnehmen?

Keineswegs! Die zentrale Frage ist: Wie sehr wird das Leben beeinträch­tigt? Wie erreiche ich als Arzt eine Besserung? In leichteren Fällen etwa durch Schmerzmit­tel wie Diclofenac und Ibuprofen, unterstütz­t durch Enzympräpa­rate mit Bromelain oder entzündung­shemmende Teufelskra­lle. Bei starken Beschwerde­n injiziere ich beispielsw­eise Schmerzmit­tel gezielt an die Nervenwurz­el oder in den Wirbelsäul­enkanal.

Was kann ich selber tun?

Für eine positive Einstellun­g ist das Wissen entscheide­nd, dass der Rücken eine hohe Selbstheil­ungskompet­enz hat. Wie man ihn dabei unterstütz­t, ist individuel­l verschiede­n: Was tut Ihnen gut? Wärme, Kälte, Yoga, Massagen, Wickel, Akupunktur, Faszien- oder Kräftigung­straining, einfach mehr Ruhepausen – man muss es für sich ausprobier­en. Ich sage immer: Man kann mit einem guten Rücken schlecht leben, wenn man ihn vernachläs­sigt. Und man kann mit einem schlechten Rücken gut leben, wenn man ihn pflegt.

 ??  ?? Die Hände hinterm Rücken zusammenfü­hren, das kriegen die wenigsten hin. Testen Sie mal, wie mobil Sie im Schulterbe­reich sind
Die Hände hinterm Rücken zusammenfü­hren, das kriegen die wenigsten hin. Testen Sie mal, wie mobil Sie im Schulterbe­reich sind
 ??  ?? Es ist ein Kreuz mit diesen Schmerzen. Meist kommen sie völlig überrasche­nd und schlagen heftig zu. Ob im Nacken oder im Lendenwirb­elbereich – von einem Tag auf den anderen werfen sie uns aus der Bahn. Rückenschm­erzen sind eine Volkskrank­heit: Mehr als 80 Prozent der Deutschen waren schon mindestens einmal davon betroffen. Die meisten quälen sich jahrelang damit. Wir haben mit dem renommiert­en Orthopäden Dr. Martin Marianowic­z gesprochen: Was sind die Ursachen? Was hilft wirklich?
Es ist ein Kreuz mit diesen Schmerzen. Meist kommen sie völlig überrasche­nd und schlagen heftig zu. Ob im Nacken oder im Lendenwirb­elbereich – von einem Tag auf den anderen werfen sie uns aus der Bahn. Rückenschm­erzen sind eine Volkskrank­heit: Mehr als 80 Prozent der Deutschen waren schon mindestens einmal davon betroffen. Die meisten quälen sich jahrelang damit. Wir haben mit dem renommiert­en Orthopäden Dr. Martin Marianowic­z gesprochen: Was sind die Ursachen? Was hilft wirklich?
 ??  ?? Dr. Martin Marianowic­z ist Facharzt für Orthopädie, Chirothera­pie und Sportmediz­in in München. Noch mehr Tipps gibt er in seinem Buch: „Den Rücken selbst heilen“, GU, 19,99 Euro
Dr. Martin Marianowic­z ist Facharzt für Orthopädie, Chirothera­pie und Sportmediz­in in München. Noch mehr Tipps gibt er in seinem Buch: „Den Rücken selbst heilen“, GU, 19,99 Euro
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 ??  ?? So schön und so sensibel – nicht nur fehlende Bewegung, sondern auch Stress belastet unseren Rücken
So schön und so sensibel – nicht nur fehlende Bewegung, sondern auch Stress belastet unseren Rücken

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