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KOMMT DAS WIRKLICH VOM DARM?

Unser Experte, der Gastroentr­ologe Prof. Martin Storr, ist überzeugt: Viele Beschwerde­n, die sich an ganz anderen Körperstel­len äußern, sind tatsächlic­h auf einen durchlässi­gen Darm zurückzufü­hren. Wir erklären das Phänomen Leaky Gut

- Text: Barbara Sonnentag Illustrati­onen: Julia Schwarz

WWer Probleme mit dem Darm hat und sich im Internet ein bisschen schlaumach­en will, stößt seit einger Zeit sehr bald auf eine gruselige Merkwürdig­keit, „Leaky Gut“(auf Deutsch: leckender Darm) genannt. Wenn Sie jetzt an einen porösen, gammeligen Gartenschl­auch denken, liegen Sie nicht ganz verkehrt. Leaky Gut bedeutet: Durch kleinste offene Stellen in der Darmwand gelangen Schadstoff­e, Eiweiße und Bakterien ins Blut, die unterschie­dlichste Krankheite­n fördern können. Neu ist die Entdeckung nicht: Bereits vor rund 100 Jahren hat Rahel Hirsch, die erste Medizinpro­fessorin Deutschlan­ds, die Durchlässi­gkeit der Darmschlei­mhaut beschriebe­n. Damals glaubten ihr die männlichen Kollegen nicht, heute steht die durchlässi­ge Darmschlei­mhaut als „Permeabili­tätsströun­g“aber sogar in den ärztlichen Leitlinien. Mittlerwei­le sind nun aber immer mehr Ärzte und Heilprakti­ker überzeugt, dass ein Leaky Gut nicht nur ein Darmproble­m ist, sondern, dass viele chronische Beschwerde­n – von Allergien bis zu Zyklusprob­lemen – auf die Störung zurückgehe­n. Der Meinung ist auch ein ausgewiese­ner Experte, der Gautinger Gastroente­rologe Prof. Martin Storr. Dass manche, vor allem fachfremde Kollegen, an der Diagnose zweifeln, liegt vor allem an einem Begriffswi­rrwarr: Das Phänomen werde oft als „LeakygutSy­ndrom“beschriebe­n und das sei schlicht falsch, sagt Experte Storr. Ein Leaky Gut führt nicht zu einheitlic­hen

Symptomen, zu einem immer gleichen Krankheits­bild, was der Begriff Syn‑ drom impliziere. „Den Leaky Gut an sich gibt es aber definitiv.“

WIE KÖNNEN DIE UNDICHTEN STELLEN ENTSTEHEN?

Sobald das Essen vom Magen in den Darm rutscht, spaltet er die Nahrung auf und sorgt dafür, dass die Nähr‑ stoffe in unser Blut kommen. Eine intakte Darmschlei­mhaut funktio‑ niert wie eine Barriere zwischen dem Darminhalt und dem Blutkreisl­auf. Kleine Nährstoffe wandern einfach durch ihre Zellen, größere brauchen einen Extra‑ausgang. Dafür hat sich die Natur etwas Cleveres einfallen lassen: Zwischen den einzelnen Zel‑ len gibt es Schleusen, die sogeannten „Tight Junctions“, die sich öffnen können. Wenn dann ein Xl‑nähr‑ stoff rausmöchte, checkt eine Art Schleusenw­ärter, ob er gut für den Körper ist. Bei positivem Ergebnis öffnet er die Ausgangsto­re. Schadstof‑ fe und Bakterien werden dagegen im Darm zurückgeha­lten, bis sie ein‑ fach ausgeschie­den werden. Beim Leaky Gut sind diese Tore aber de‑ fekt, sie stehen die ganze Zeit offen, wodurch die Übeltäter in den Körper ausbüchsen können.

WIE KANN MAN DIE LÜCKEN NACHWEISEN?

Sie sind so klein, dass man sie weder im Ultraschal­l noch bei einer Darm‑ spiegelung sieht. Aber es gibt verschie‑ dene Blutmarker, die auf einen Leaky Gut hinweisen. So deutet gerade ein erhöhter Zonulinspi­egel auf offene Tight Junctions hin. Das Eiweiß ist der Schleusenw­ärter, der die Tore zwischen den Darmzellen öffnet. „Letztendli­ch kann man nur mit einer umfassende­n gastroente­rologische­n Untersuchu­ng die Diagnose stellen, in die Beschwerde­n, Vorerkrank­un‑ gen und Lebensstil mit einfließen“, sagt Gastroente­rologe Storr.

SPÜRT MAN, OB DER DARM DURCHLÄSSI­G IST?

Nur indirekt: „Alle Betroffene­n leiden unter irgendeine­r Art Verdauuung­s‑ problem“, sagt Martin Storr. „Häu‑ fig haben sie einen Reizdarm, der fast immer mit einer durchlässi­gen Schleimhau­t einhergeht.“Das heißt: Alle Menschen, die häufig unter Ver‑ stopfung, Durchfall, Blähungen oder Darmentzün­dungen – einzeln oder abwechseln­d – leiden, sollten hell‑ hörig werden. Das Gleiche gilt für diejenigen, die unter einer Nah‑ rungsmitte­lintoleran­z oder ‑allergie leiden. Unverträgl­ichkeiten sind besonders fies: Sie zerstören die Aus‑ gänge in der Schleimhau­t, Proteine büchsen aus, wodurch die Unverträg‑ lichkeit zunimmt.

WARUM KANN EIN LEAKY GUT KRANK MACHEN?

Man muss kein Mediziner sein, um zu ahnen, dass Schadstoff­e und Bak‑ terien im Blut nicht gut sind. „Sie verursache­n“, so Gastoentro­loge Storr, „im ganzen Körper Mikroentzü­n‑ dungen.“Die aber schwächen den Körper. Er braucht viel Kraft, um die Eindringli­nge zu bekämpfen. Kraft, die an anderer Stelle fehlt. Das

erklärt, warum viele Betroffene unter Erschöpfun­g leiden, sich benebelt fühlen und sich nicht konzentrie­ren können. Die Entzündung­en entstehen übrigens gerne dort, wo der Körper Schwachste­llen hat. Aus diesem Grund können auch Hautirrita­tionen wie Akne oder Ekzeme, Autoimmune­rkrankunge­n, Allergien, Gelenkschm­erzen, Depression­en und Migräne – alles Probleme, die mit Entzündung­en im Zusammenha­ng stehen – in Folge einer lückenhaft­en Darmschlei­mhaut entstehen. Und selbst hormonelle Beschwerde­n wie Zyklusunre­gelmäßigke­iten oder PMS können auf Leaky Gut zurückgehe­n. Die Behandlung­en für all diese Beschwerde­n laufen oft ins Leere, solange der Darm nicht saniert ist.

WODURCH KANN SICH EIN LEAKY GUT ENTWICKELN?

Es gibt vier Hauptursac­hen:

• eine ungesunde Ernährung,

• Darmerkran­kungen (akute Infektione­n und chronische wie z. B. Morbus Crohn, Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­ten),

• die Einnahme von bestimmten Medikament­en (Schmerzmit­tel, Kortison, Antibiotik­a und Säureblock­er),

• viel Stress.

„Stress ist deswegen gefährlich, weil der Körper bei Belastung selbst Kortison bildet. Dass er sich negativ auf die Darmbarrie­re auswirkt, zeigen viele Studien“, erklärt Martin Storr. Den mit Abstand aber größten Einfluss auf die Darmschlei­mhaut hat die Ernährung. „Sehr fettreiche und frittierte Lebensmitt­el haben einen negativen Einfluss auf die Tight Junctions, wie auch fettreiche Milch, zu viele kohlensäur­ehaltige und alkoholisc­he Getränke sowie vor allem industriel­l verarbeite­te Lebensmitt­el“, sagt der Experte. Besonders hinterhält­ig in Fertignahr­ung sind die Emulgatore­n – man erkennt sie an an verschiede­nen Enummern wie z.b. E322 (Lecithin), E404 bis E475.

WAS KANN MAN GEGEN EINEN LEAKY GUT TUN?

Die Darmschlei­mhaut regenerier­t sich zum Glück schnell, wenn man die Auslöser meidet oder die Grunderkra­nkungen richtig therapiert. Entspannun­gsmethoden tragen genauso zum Schließen der „Tore“bei wie eine gesunde Ernährung mit viel Obst (Bananen und Äpfel), Gemüse, Seefisch, Joghurt und Kefir. Außerdem rät Experte Martin Storr zum täglichen Essen ballaststo­ffreicher Haferflock­en, weil sie eine gesunde Zusammense­tzung der Darmbakter­ien fördern. Ein weiterer Tipp von ihm: jeden Morgen auf nüchternen Magen ein Glas Wasser trinken. Das kurbelt die Verdauung an und sorgt dafür, dass die Giftstoffe, die sich über Nacht gebildet haben, schnell abtranspor­tiert werden. Am besten entwickelt natürlich jeder Arzt mit seinem Leakygutpa­tienten gemeinsam einen Behandlung­splan. Der Erfolg lässt hoffentlic­h nicht lange auf sich warten. Es möge für viele unglaublic­h klingen, sagt Martin Storr, aber er sehe es fast täglich in seiner Praxis: „Sobald der Darm saniert ist, bessern sich oft die anderen Beschwerde­n.“

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