KOMMT DAS WIRKLICH VOM DARM?
Unser Experte, der Gastroentrologe Prof. Martin Storr, ist überzeugt: Viele Beschwerden, die sich an ganz anderen Körperstellen äußern, sind tatsächlich auf einen durchlässigen Darm zurückzuführen. Wir erklären das Phänomen Leaky Gut
WWer Probleme mit dem Darm hat und sich im Internet ein bisschen schlaumachen will, stößt seit einger Zeit sehr bald auf eine gruselige Merkwürdigkeit, „Leaky Gut“(auf Deutsch: leckender Darm) genannt. Wenn Sie jetzt an einen porösen, gammeligen Gartenschlauch denken, liegen Sie nicht ganz verkehrt. Leaky Gut bedeutet: Durch kleinste offene Stellen in der Darmwand gelangen Schadstoffe, Eiweiße und Bakterien ins Blut, die unterschiedlichste Krankheiten fördern können. Neu ist die Entdeckung nicht: Bereits vor rund 100 Jahren hat Rahel Hirsch, die erste Medizinprofessorin Deutschlands, die Durchlässigkeit der Darmschleimhaut beschrieben. Damals glaubten ihr die männlichen Kollegen nicht, heute steht die durchlässige Darmschleimhaut als „Permeabilitätsströung“aber sogar in den ärztlichen Leitlinien. Mittlerweile sind nun aber immer mehr Ärzte und Heilpraktiker überzeugt, dass ein Leaky Gut nicht nur ein Darmproblem ist, sondern, dass viele chronische Beschwerden – von Allergien bis zu Zyklusproblemen – auf die Störung zurückgehen. Der Meinung ist auch ein ausgewiesener Experte, der Gautinger Gastroenterologe Prof. Martin Storr. Dass manche, vor allem fachfremde Kollegen, an der Diagnose zweifeln, liegt vor allem an einem Begriffswirrwarr: Das Phänomen werde oft als „LeakygutSyndrom“beschrieben und das sei schlicht falsch, sagt Experte Storr. Ein Leaky Gut führt nicht zu einheitlichen
Symptomen, zu einem immer gleichen Krankheitsbild, was der Begriff Syn‑ drom impliziere. „Den Leaky Gut an sich gibt es aber definitiv.“
WIE KÖNNEN DIE UNDICHTEN STELLEN ENTSTEHEN?
Sobald das Essen vom Magen in den Darm rutscht, spaltet er die Nahrung auf und sorgt dafür, dass die Nähr‑ stoffe in unser Blut kommen. Eine intakte Darmschleimhaut funktio‑ niert wie eine Barriere zwischen dem Darminhalt und dem Blutkreislauf. Kleine Nährstoffe wandern einfach durch ihre Zellen, größere brauchen einen Extra‑ausgang. Dafür hat sich die Natur etwas Cleveres einfallen lassen: Zwischen den einzelnen Zel‑ len gibt es Schleusen, die sogeannten „Tight Junctions“, die sich öffnen können. Wenn dann ein Xl‑nähr‑ stoff rausmöchte, checkt eine Art Schleusenwärter, ob er gut für den Körper ist. Bei positivem Ergebnis öffnet er die Ausgangstore. Schadstof‑ fe und Bakterien werden dagegen im Darm zurückgehalten, bis sie ein‑ fach ausgeschieden werden. Beim Leaky Gut sind diese Tore aber de‑ fekt, sie stehen die ganze Zeit offen, wodurch die Übeltäter in den Körper ausbüchsen können.
WIE KANN MAN DIE LÜCKEN NACHWEISEN?
Sie sind so klein, dass man sie weder im Ultraschall noch bei einer Darm‑ spiegelung sieht. Aber es gibt verschie‑ dene Blutmarker, die auf einen Leaky Gut hinweisen. So deutet gerade ein erhöhter Zonulinspiegel auf offene Tight Junctions hin. Das Eiweiß ist der Schleusenwärter, der die Tore zwischen den Darmzellen öffnet. „Letztendlich kann man nur mit einer umfassenden gastroenterologischen Untersuchung die Diagnose stellen, in die Beschwerden, Vorerkrankun‑ gen und Lebensstil mit einfließen“, sagt Gastroenterologe Storr.
SPÜRT MAN, OB DER DARM DURCHLÄSSIG IST?
Nur indirekt: „Alle Betroffenen leiden unter irgendeiner Art Verdauuungs‑ problem“, sagt Martin Storr. „Häu‑ fig haben sie einen Reizdarm, der fast immer mit einer durchlässigen Schleimhaut einhergeht.“Das heißt: Alle Menschen, die häufig unter Ver‑ stopfung, Durchfall, Blähungen oder Darmentzündungen – einzeln oder abwechselnd – leiden, sollten hell‑ hörig werden. Das Gleiche gilt für diejenigen, die unter einer Nah‑ rungsmittelintoleranz oder ‑allergie leiden. Unverträglichkeiten sind besonders fies: Sie zerstören die Aus‑ gänge in der Schleimhaut, Proteine büchsen aus, wodurch die Unverträg‑ lichkeit zunimmt.
WARUM KANN EIN LEAKY GUT KRANK MACHEN?
Man muss kein Mediziner sein, um zu ahnen, dass Schadstoffe und Bak‑ terien im Blut nicht gut sind. „Sie verursachen“, so Gastoentrologe Storr, „im ganzen Körper Mikroentzün‑ dungen.“Die aber schwächen den Körper. Er braucht viel Kraft, um die Eindringlinge zu bekämpfen. Kraft, die an anderer Stelle fehlt. Das
erklärt, warum viele Betroffene unter Erschöpfung leiden, sich benebelt fühlen und sich nicht konzentrieren können. Die Entzündungen entstehen übrigens gerne dort, wo der Körper Schwachstellen hat. Aus diesem Grund können auch Hautirritationen wie Akne oder Ekzeme, Autoimmunerkrankungen, Allergien, Gelenkschmerzen, Depressionen und Migräne – alles Probleme, die mit Entzündungen im Zusammenhang stehen – in Folge einer lückenhaften Darmschleimhaut entstehen. Und selbst hormonelle Beschwerden wie Zyklusunregelmäßigkeiten oder PMS können auf Leaky Gut zurückgehen. Die Behandlungen für all diese Beschwerden laufen oft ins Leere, solange der Darm nicht saniert ist.
WODURCH KANN SICH EIN LEAKY GUT ENTWICKELN?
Es gibt vier Hauptursachen:
• eine ungesunde Ernährung,
• Darmerkrankungen (akute Infektionen und chronische wie z. B. Morbus Crohn, Nahrungsmittelunverträglichkeiten),
• die Einnahme von bestimmten Medikamenten (Schmerzmittel, Kortison, Antibiotika und Säureblocker),
• viel Stress.
„Stress ist deswegen gefährlich, weil der Körper bei Belastung selbst Kortison bildet. Dass er sich negativ auf die Darmbarriere auswirkt, zeigen viele Studien“, erklärt Martin Storr. Den mit Abstand aber größten Einfluss auf die Darmschleimhaut hat die Ernährung. „Sehr fettreiche und frittierte Lebensmittel haben einen negativen Einfluss auf die Tight Junctions, wie auch fettreiche Milch, zu viele kohlensäurehaltige und alkoholische Getränke sowie vor allem industriell verarbeitete Lebensmittel“, sagt der Experte. Besonders hinterhältig in Fertignahrung sind die Emulgatoren – man erkennt sie an an verschiedenen Enummern wie z.b. E322 (Lecithin), E404 bis E475.
WAS KANN MAN GEGEN EINEN LEAKY GUT TUN?
Die Darmschleimhaut regeneriert sich zum Glück schnell, wenn man die Auslöser meidet oder die Grunderkrankungen richtig therapiert. Entspannungsmethoden tragen genauso zum Schließen der „Tore“bei wie eine gesunde Ernährung mit viel Obst (Bananen und Äpfel), Gemüse, Seefisch, Joghurt und Kefir. Außerdem rät Experte Martin Storr zum täglichen Essen ballaststoffreicher Haferflocken, weil sie eine gesunde Zusammensetzung der Darmbakterien fördern. Ein weiterer Tipp von ihm: jeden Morgen auf nüchternen Magen ein Glas Wasser trinken. Das kurbelt die Verdauung an und sorgt dafür, dass die Giftstoffe, die sich über Nacht gebildet haben, schnell abtransportiert werden. Am besten entwickelt natürlich jeder Arzt mit seinem Leakygutpatienten gemeinsam einen Behandlungsplan. Der Erfolg lässt hoffentlich nicht lange auf sich warten. Es möge für viele unglaublich klingen, sagt Martin Storr, aber er sehe es fast täglich in seiner Praxis: „Sobald der Darm saniert ist, bessern sich oft die anderen Beschwerden.“