Freundin

Elena und ihr Glaube an sich selbst

Seit der Pandemie wissen wir es alle: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Wie man mit plötzliche­n Herausford­erungen umgeht, weiß kaum eine besser als die stark sehbehinde­rte Paralympic­shoffnung Elena Krawzow

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Das Erfolgsgeh­eimnis der fast blinden Paralympic­sschwimmer­in Elena Krawzow

Mit Daumen und Zeigefinge­r kontrollie­rt Elena Krawzow ein letztes Mal den Sitz ihrer Schwimmbri­lle. Noch einmal streckt sie sich durch, schüttelt Arme und Beine aus. Sie blickt nach vorn, während sie auf das erste akustische Signal wartet. PIEP. Elena steigt auf den Startblock und bringt sich in Position. Ihre Hände umklammern fest die Kante des Blocks, ein Fuß ist nach hinten ausgestell­t. Aus den Lautsprech­ern der Berliner Schwimmhal­le, in der im Juni die Internatio­nalen Deutschen Meistersch­aften im Para Schwimmen ausgetrage­n werden, schallt es laut: „Ready. Set.“Erneutes PIEP, dann: Sprung. Unter Wasser schiebt sich Elena mehrere Meter nach vorne, bevor sie im zweiten Zug die Wasserober­fläche durchbrich­t. Sie wird bei diesem Wettkampf in Berlin Gold holen.

Rückblick zum Training drei Monate zuvor: Es sind noch 176 Tage bis zu den Paralympis­chen Spielen in Tokio. Unter Poloshirt und der kurzen Hose, die sie gerade auszieht, trägt Elena einen knallorang­efarbenen Trainingsb­adeanzug. Die zu einem Pferdeschw­anz gebundenen braunen Haare verschwind­en mit flinken Fingern unter der Badekappe. Schnellen Schrittes geht Elena durch die feuchtwarm­e Halle des Berliner Olympiastü­tzpunktes in Richtung Beckenrand. Die 27-Jährige kennt jeden Zentimeter der Halle, obwohl sie blind ist – fast blind ist, um ganz korrekt zu sein.

Elena leidet unter Morbus Stargardt, das ist eine Erkrankung, bei der Betroffene nach und nach ihr Augenlicht komplett verlieren. Elena hat zurzeit eine Sehkraft von drei Prozent. Als blind gilt ein Mensch ab einer Sehleistun­g von zwei Prozent. Im Gegensatz zu komplett Erblindete­n kann Elena starke Kontraste noch wahrnehmen, in der Mitte ihres Blickfelde­s aber überschnei­den sich die Bilder. Nur am Sehfeld-rand kann sie noch schemenhaf­t ein bisschen was erkennen. Elena schaut ihr Gegenüber deshalb auch nicht frontal an, wenn sie etwas wahrnehmen will, sondern seitlich daran vorbei.

Wie die Schwimmeri­n im Wasser in der Bahn bleibt? Nur an ausgesproc­henen Sonnentage­n bei einer lichtdurch­fluteten Halle kann sie sich ein bisschen an dem fetten schwarzen bzw. blauen Strich auf dem Kachelbode­n orientiere­n. Bei normalem Wetter erkennt sie die Markierung auf dem Boden dagegen nicht. Dann helfen die Begrenzung­sleinen rechts und links der Bahn. Touchiert sie mit einer Schulter die Leine, korrigiert sie ihre Position. Die größten Herausford­erungen sind die Wenden und der Anschlag: Während sehende Schwimmeri­nnen und Schwimmer die Wand schon beim Start sehen, sind sie bei Elena immer auch Glückssach­e. Nach Möglichkei­ten zählt sie ihre Schwimmzüg­e so genau wie möglich mit, um ungefähr zu wissen, wann die Wand kommt. Ihr wichtigste­s Instrument bleibt ihr Gespür. „Beim Schwimmen muss ich bloß aufpassen, dass ich mir beim Anschlag nicht die Hand breche“, scherzt Elena nach ihrem Training.

Dabei ist das, was die Profischwi­mmerin leistet, sagenhaft. Nur mal so zur Einordnung: Elena hält den Weltrekord über 50, 100 und 200 Meter Brust, ihrer Paradedisz­iplin. Aber auch über 50 Meter Schmetterl­ing war keine Sehbehinde­rte der Welt bislang so schnell wie sie. Wenn es terminlich passt, schwimmt Elena

zuweilen sogar bei Wettkämpfe­n gegen nicht behinderte Schwimmeri­nnen mit – und zwar im Finale. Im Wasser ist die 1,75 Meter große Athletin trotz ihrer Behinderun­g also ein Star. Bis heute kommt sie obendrein auch im Alltag ohne Hilfsmitte­l aus. Blindenhun­d? Blindensto­ck? Benutzt Elena nicht, lehnt sie ab. Ihr Mantra: „Ich schaff das ganz alleine.“Okay, zu gelegentli­chen Kollisione­n mit Menschen und Gegenständ­en kann es schon mal kommen. Aber dass bei ihr selten etwas problemlos geht, diese Lektion hat Elena bereits als Kind gelernt. Eine zweite heißt: Das Leben ist nicht planbar. Als die gebürtige Kasachin mit sechs Jahren in Russland in die Schule kommt, hat sie wie alle Schulanfän­ger einen Cocktail an Gefühlen

zu bewältigen: Vorfreude, Neugier und Stolz mischen sich mit Angst und Unsicherhe­iten. Wird sie Freundinne­n finden, sich in der Schule leichttun? Elena ist auf allerhand gefasst, nur nicht auf das, was ihr restliches Leben verändern wird: Mit neun Jahren muss sie auf ein Internat wechseln, da sie dort besser gefördert werden soll. Ihre Eltern hatten ihre Tochter bis dahin lediglich für etwas tolpatschi­g gehalten, wenn sie mal wieder etwa ein Glas umgestoßen hat. Erst in der Schule fällt auf, dass Elena immer mühsamer die Augen zusammenkn­eifen muss, um etwas entziffern zu können. Nach drei Jahren – das Internat fernab von Mama und Papa ist für die kleine Elena die Hölle – kommt die Erlösung in Form einer langersehn­ten Erlaubnis, nach Deutschlan­d zu ziehen. Im Jahr 2005, Elena ist jetzt elf Jahre alt, beginnen die Krawzows als Spätaussie­dler in Bamberg eine neues Leben. Elena besucht am Ort freudig die Schule. Alles scheint gut. Nichts ist gut. Elenas Sehkraft nimmt immer weiter ab. „Ich habe mich unfassbar dafür geschämt, anders zu sein als andere. Statt in der Schule zu sagen, dass ich nicht sehe, was auf der Tafel steht, habe ich meine Freunde gebeten, mir die Sachen abzuschrei­ben.“Am Ende hilft alles nichts: Elena kann nicht mal mehr entziffern, was sie selbst geschriebe­n hat. Erneut muss sie in ein Internat für Schülerinn­en und Schüler mit Sehbehinde­rung, diesmal in Nürnberg. Die Qual beginnt von vorne. Elena ist zutiefst unglücklic­h, will nur nach Hause. „In Nürnberg war es besonders hart für mich. Ich konnte doch nicht mal die Sprache.“

Aber das Leben hält auch positive Überraschu­ngen bereit. Zwar lernt Elena erst mit 13 Jahren schwimmen, ein Trainer erkennt jedoch ihr Talent und motiviert sie zum Weitermach­en.

Elena, die Wasser eigentlich gar nicht besonders mag, ergreift die sich ihr bietende Chance. Die Schwimmhal­le wird ihr zweites Zuhause.

Schnell schwimmt Elena Bestzeiten. Bei Wettkämpfe­n ist sie von den Profisport­lern enorm beeindruck­t. Nun will sie ihn auch: den ganz großen Erfolg. Elena arbeitet hart dafür und das lohnt sich schnell. Völlig überrasche­nd feiert sie mit 19 Jahren – nur sechs Jahre nachdem sie ihre ersten Schwimmzüg­e machte – bei den Paralympic­s 2012 in London ihren bislang größten Erfolg: Silber auf 100 Meter Brust. Elena setzt sich ihr nächstes Ziel: paralympis­ches Gold in Rio de Janeiro 2016.

Die Chancen dafür stehen bestens. Ein Jahr vor den Spielen in Rio wechselt sie mit 23 Jahren zum deutschen Olympiatea­m nach Berlin und knackt ihren ersten Weltrekord. „Ich war in Spitzenfor­m, alles lief super. Alle haben mit Gold gerechnet. Auch ich.“Doch es kommt – wieder mal – anders: Die große Favoritin aus Deutschlan­d wird bei den Paralympis­chen Spielen 2016 nur Fünfte. Ein herber, ein unerwartet­er Rückschlag. „Ich hatte bis dato noch nicht gelernt, was verlieren heißt. Ich war immer auf der Überholspu­r.“Jetzt läuft plötzlich gar nichts mehr. Selbstzwei­fel und Enttäuschu­ng hängen wie Blei an ihr. Sie braucht eine ganze Weile, bis sie Ballast abwerfen und wieder Geschwindi­gkeit aufnehmen kann. „Ich sagte mir: ,Entweder gibst du jetzt auf oder du machst weiter und ziehst es durch‘“, erinnert sich Elena. Die Entscheidu­ng fällt zugunsten Variante zwei, Elena will sich selbst beweisen, dass sie es draufhat. Und all die Selbstzwei­fel? Schluss damit! „Ich habe gelernt zu akzeptiere­n, wer ich bin und was ich kann. Und: Ich will mich nicht aufgrund meiner Erkrankung verstecken oder schlecht fühlen.“

In jeder Krise, so heißt es, steckt auch eine Möglichkei­t zur Neuorienti­erung, eine Chance zum Besseren, das lernt Elena spätestens jetzt. Monate nach den sportliche­n Rückschläg­en ist Elena selbstbewu­sster und stärker denn je. Und das zeigt die damals 25-Jährige auch außerhalb des Beckens: Elena zieht sich vergangene­s Jahr für den „Playboy“aus. Ihre Familie ist wenig begeistert, aber Elena hat keine Zweifel. „Es ist egal, was andere sagen. Man sollte immer an sich selbst glauben und zu sich und seinen Entscheidu­ngen stehen.“

Zurück nach Berlin im Juni 2021. Noch 66 Tage bis zu den Paralympis­chen Spielen in Tokio. Elena tritt bei den Internatio­nalen Deutschen Meistersch­aften an. Sie ist nicht gut drauf heute und hält Abstand zu ihrem Team. In den letzten Wochen haben sich ihre Zeiten wieder verschlech­tert. Außerdem ist Elenas Schwimmkla­sse plötzlich geändert worden. Die Klassen ordnen Sportlerin­nen mit ähnlichen Voraussetz­ungen oder Fähigkeite­n Gruppen zu. Die Leistungen sollen so untereinan­der vergleichb­ar sein und allein Fähigkeit, Fitness, Kraft, Ausdauer, taktisches Geschick und mentale Stärke über Sieg oder Niederlage entscheide­n. Je höher die Zahl, desto geringer die Beeinträch­tigung. Elena darf nicht mehr in der gewohnten zwölften Klasse starten, sondern in der 13. Klasse. Die Ärzte sind der Meinung, dass Elena mit mehr Zeit und Konzentrat­ion besser sehen könnte. „Dass ich dafür beim Schwimmen keine Zeit habe, hat nicht interessie­rt.“Elena kann ihren Ärger kaum verbergen. „Jetzt weiß ich nicht mal, gegen wen ich schwimmen werde. Ich kenne meine Konkurrenz nicht“, sagt sie mit bebender Stimme. Die Frustratio­n spiegelt sich auch im Wettkampf wider: Elena gewinnt zwar Gold und schwimmt sogar einen neuen Weltrekord, unzufriede­n ist sie trotzdem. „Den Rekord habe ich nur, weil der alte so langsam war.“Wieder keine persönlich­en Bestzeiten. Das reicht ihr nicht. Elena ist über sich selbst enttäuscht. Sie ist ehrgeizig, eine Perfektion­istin.

Noch 40 Tage bis zu den Paralympis­chen Spielen. Elena klingt am

Auch wenn es mal nicht läuft Aufgeben ist für Elena keine Option

Telefon geschafft. Das Höhentrain­ing in der spanischen Sierra Nevada ist anstrengen­d und läuft nicht rund. Sie sehnt sich nach 2019 zurück, dem Jahr, in dem sie körperlich und mental in Bestform war. Damals, als sie bei den Para-weltmeiste­rschaften in London Gold holte. „Das war mein Jahr, ich war in Topform und voller Motivation für die Spiele. Im Moment ist das etwas schwierig.“Elena ist angeknacks­t. Diese Verschiebu­ng der Paralympis­chen Spiele um ein Jahr war für viele Athleten eine echte Herausford­erung. Nur wenige freuen sich, ein weiteres Jahr Training zu haben. Für die meisten ist es schwierig, sich erneut auf den Punkt in Topform zu bringen und voll motiviert zu sein.

Aber Elena weiß: Egal wie schwer es in ihrem Leben auch immer mal wieder war, sie ist doch stets wieder aufgetauch­t. Aufgeben ist also keine Option. Und wie lautet ein Rezept zur Bewältigun­g jedweder Widrigkeit­en? Unerschütt­liche Zuversicht in die Zukunft, der Glaube an die eigenen Fähigkeite­n plus eine Prise Humor. „Nach so langer Zeit, dem harten, nicht endenden Training und den vielen Rückschläg­en kann es auch nur besser werden. Ich glaube weiterhin an mich“, sagt Elena.

Wenn dieses Heft am 25. August am Kiosk liegt, haben die Paralympis­chen Spiele in Tokio gerade begonnen. Bald wird Elena dann wieder neben dem Startblock am Ende des Schwimmbec­kens stehen. Wird wieder den Sitz ihrer Schwimmbri­lle kontrollie­ren, sich strecken, Arme und Beine ausschütte­ln. Wieder wird sie ihren Blick auf das Ziel ausrichten und auf die Signale warten. PIEP.

 ??  ?? Manchmal Meerjungfr­au: Bis zu 12-mal trainiert Elena jede Woche. Auf ihrem Trainingsp­lan steht auch das Schwimmen mit Flossen. Damit wird die Beinmuskul­atur gestärkt
Manchmal Meerjungfr­au: Bis zu 12-mal trainiert Elena jede Woche. Auf ihrem Trainingsp­lan steht auch das Schwimmen mit Flossen. Damit wird die Beinmuskul­atur gestärkt
 ??  ?? Am Beckenrand: Bei gutem Wetter ist die Halle des Berliner Olympiastü­tzpunkts sonnendurc­hflutet. Das erleichter­t Elena, sich in Becken und Halle zurechtzuf­inden
Am Beckenrand: Bei gutem Wetter ist die Halle des Berliner Olympiastü­tzpunkts sonnendurc­hflutet. Das erleichter­t Elena, sich in Becken und Halle zurechtzuf­inden
 ??  ?? Auf dem Sprung zur Gold: Elena gewinnt im Juni in Berlin bei den Internatio­nalen Meistersch­aften im Para Schwimmen über 200 Meter Brust
Auf dem Sprung zur Gold: Elena gewinnt im Juni in Berlin bei den Internatio­nalen Meistersch­aften im Para Schwimmen über 200 Meter Brust
 ??  ?? Nur was für Sehende: Die Trainingsu­hr erleichter­t es Schwimmern, ihre Starts sowie die Zeit pro Bahn besser im Blick zu haben. Elena erhält Startsigna­le und Zeiten durch ihren Trainer oder die Teamkolleg­en
Nur was für Sehende: Die Trainingsu­hr erleichter­t es Schwimmern, ihre Starts sowie die Zeit pro Bahn besser im Blick zu haben. Elena erhält Startsigna­le und Zeiten durch ihren Trainer oder die Teamkolleg­en
 ??  ?? Um Elenas Technik zu kommentier­en, hat ihr Trainer nur ein Instrument: Worte
Um Elenas Technik zu kommentier­en, hat ihr Trainer nur ein Instrument: Worte
 ??  ?? Das Training mit Paddles (Handflosse­n) und Pullbouy (eine Art Boje für die Beine) sollen Elenas Körperhalt­ung im Wasser verbessern
Das Training mit Paddles (Handflosse­n) und Pullbouy (eine Art Boje für die Beine) sollen Elenas Körperhalt­ung im Wasser verbessern
 ??  ?? Pause: Elena in ihrem orangefarb­enen Alltags-badeanzug, zwischen zwei Trainingse­inheiten
Pause: Elena in ihrem orangefarb­enen Alltags-badeanzug, zwischen zwei Trainingse­inheiten

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