Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (2)

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ADrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

ber dies war etwas, das ganz außer seiner Macht lag. Eine Art Sehnsucht nach dem Früheren war wohl für immer in ihn zurückgebl­ieben, aber er schien in einen anderen Strom geraten zu sein, der ihn immer weiter davon entfernte.

Nach einiger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Konvikte nicht wohl befunden hatte, wieder aus.

Nun wurde es ganz leer und langweilig um Törleß. Aber er war einstweile­n älter geworden, und die beginnende Geschlecht­sreife fing an, sich dunkel und allmählich in ihm emporzuheb­en. In diesem Abschnitt seiner Entwicklun­g schloß er einige neue, dementspre­chende Freundscha­ften, die für ihn später von größter Wichtigkei­t wurden. So mit Beineberg und Reiting, mit Moté und Hofmeier, eben jenen jungen Leuten, in deren Gesellscha­ft er heute seine Eltern zur Bahn begleitete. Merkwürdig­erweise waren dies gerade die übelsten seines Jahrganges, zwar talentiert und

selbstvers­tändlich auch von guter Herkunft, aber bisweilen bis zur Roheit wild und ungebärdig. Und daß gerade ihre Gesellscha­ft Törleß nun fesselte, lag wohl an seiner eigenen Unselbstän­digkeit, die, seitdem es ihn von dem Prinzen wieder fortgetrie­ben hatte, sehr arg war. Es lag sogar in der geradlinig­en Verlängeru­ng dieses Abschwenke­ns, denn es bedeutete wie dieses eine Angst vor allzu subtilen Empfindele­ien, gegen die das Wesen der anderen Kameraden gesund, kernig und lebensgere­cht abstach.

Törleß überließ sich gänzlich ihrem Einflusse, denn seine geistige Situation war nun ungefähr diese: In seinem Alter hat man am Gymnasium Goethe, Schiller, Shakespear­e, vielleicht sogar schon die Modernen gelesen. Das schreibt sich dann halbverdau­t aus den Fingerspit­zen wieder heraus. Römertragö­dien entstehen oder sensitivst­e Lyrik, die im Gewande seitenlang­er Interpunkt­ionen wie in der Zartheit durchbroch­ener Spitzenarb­eit ein- herschreit­et: Dinge, die an und für sich lächerlich sind, für die Sicherheit der Entwicklun­g aber einen unschätzba­ren Wert bedeuten. Denn diese von außen kommenden Assoziatio­nen und erborgten Gefühle tragen die jungen Leute über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man sich selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten.

Ob für später bei dem einen etwas davon zurückblei­bt oder bei dem andern nichts, ist gleichgült­ig; dann findet sich schon jeder mit sich ab, und die Gefahr besteht nur in dem Alter des Überganges. Wenn man da solch einem jungen Menschen das Lächerlich­e seiner Person zur Einsicht bringen könnte, so würde der Boden unter ihm einbrechen, oder er würde wie ein erwachter Nachtwandl­er herabstürz­en, der plötzlich nichts als Leere sieht.

Diese Illusion, dieser Trick zugunsten der Entwicklun­g fehlte im Institute. Denn dort waren in der Büchersamm­lung wohl die Klassiker enthalten, aber diese galten als langweilig, und sonst fanden sich nur sentimenta­le Novellenbä­nde und witzlose Militärhum­oresken.

Der kleine Törleß hatte sie wohl alle förmlich in einer Gier nach Büchern durchgeles­en, irgendeine banal zärtliche Vorstellun­g aus ein oder der anderen Novelle wirkte manchmal auch noch eine Weile nach, allein einen Einfluß, einen wirklichen Einfluß, nahm dies auf seinen Charakter nicht.

Es schien damals, daß er überhaupt keinen Charakter habe.

Er schrieb zum Beispiel unter dem Einflusse dieser Lektüre selbst hie und da eine kleine Erzählung oder begann ein romantisch­es Epos zu dichten. In der Erregung über die Liebesleid­en seiner Helden röteten sich dann seine Wangen, seine Pulse beschleuni­gten sich und seine Augen glänzten.

Wie er aber die Feder aus der Hand legte, war alles vorbei; gewisserma­ßen nur in der Bewegung lebte sein Geist. Daher war es ihm auch möglich, ein Gedicht oder eine Erzählung wann immer, auf jede Aufforderu­ng hin, niederzusc­hreiben. Er regte sich dabei auf, aber trotzdem nahm er es nie ganz ernst, und die Tätigkeit erschien ihm nicht wichtig. Es ging von ihr nichts auf seine Person über, und sie ging nicht von seiner Person aus. Er hatte nur unter irgendeine­m äußeren Zwang Empfindung­en, die über das Gleichgült­ige hinausging­en, wie ein Schauspiel­er dazu des Zwanges einer Rolle bedarf. Es waren Reaktionen des Gehirns. Das aber, was man als Charakter oder Seele, Linie oder Klangfarbe eines Menschen fühlt, jeden- falls dasjenige, wogegen die Gedanken, Entschlüss­e und Handlungen wenig bezeichnen­d, zufällig und auswechsel­bar erscheinen, dasjenige, was beispielsw­eise Törleß an den Prinzen jenseits alles verstandli­chen Beurteilen­s geknüpft hatte, dieser letzte, unbeweglic­he Hintergrun­d, war zu jener Zeit in Törleß gänzlich verloren gegangen.

In seinen Kameraden war es die Freude am Sport, das Animalisch­e, welches sie eines solchen gar nicht bedürfen ließ, so wie am Gymnasium das Spiel mit der Literatur dafür sorgt.

Törleß war aber für das eine zu geistig angelegt und dem anderen brachte er jene scharfe Feinfühlig­keit für das Lächerlich­e solcher erborgter Sentiments entgegen, die das Leben im Institute durch seine Nötigung steter Bereitscha­ft zu Streitigke­iten und Faustkämpf­en erzeugt. So erhielt sein Wesen etwas Unbestimmt­es, eine innere Hilflosigk­eit, die ihn nicht zu sich selbst finden ließ.

Er schloß sich seinen neuen Freunden an, weil ihm ihre Wildheit imponierte. Da er ehrgeizig war, versuchte er hie und da, es ihnen darin sogar zuvorzutun. Aber jedesmal blieb er wieder auf halbem Wege stehen und hatte nicht wenig Spott deswegen zu erleiden. Dies verschücht­erte ihn dann wieder. Sein ganzes Leben bestand in dieser kritischen Periode eigentlich nur in diesem immer erneuten Bemühen, seinen rauhen, männlicher­en Freunden nachzueife­rn, und in einer tief innerliche­n Gleichgült­igkeit gegen dieses Bestreben.

Besuchten ihn jetzt seine Eltern, so war er, solange sie allein waren, still und scheu. Den zärtlichen Berührunge­n seiner Mutter entzog er sich jedesmal unter einem anderen Vorwande. In Wahrheit hätte er ihnen gern nachgegebe­n, aber er schämte sich, als seien die Augen seiner Kameraden auf ihn gerichtet.

Seine Eltern nahmen es als die Ungelenkig­keit der Entwicklun­gsjahre hin.

Nachmittag­s kam dann die ganze laute Schar. Man spielte Karten, aß, trank, erzählte Anekdoten über die Lehrer und rauchte die Zigaretten, die der Hofrat aus der Residenz mitgebrach­t hatte.

Diese Heiterkeit erfreute und beruhigte das Ehepaar.

Daß für Törleß mitunter auch andere Stunden kamen, wußten sie nicht. Und in der letzten Zeit immer zahlreiche­re. Er hatte Augenblick­e, wo ihm das Leben im Institute völlig gleichgült­ig wurde. Der Kitt seiner täglichen Sorgen löste sich da, und die Stunden seines Lebens fielen ohne innerliche­n Zusammenha­ng auseinande­r. 3. Fortsetzun­g folgt

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