Wenn Spielen zur Sucht wird
Die einen jagen in ihrer Freizeit Monster, die anderen schlüpfen am liebsten in die Rolle von Kriegern oder Herrschern. Alles nur zum Spaß, versteht sich. Gefährlich wird es, wenn die virtuelle Welt das echte Leben verdrängt. Dann kann jeder Klick zu viel
Augsburg Der Blick auf die Uhr verheißt nichts Gutes. Seit einer Stunde ist das Gold fertig und muss abgeholt werden. Acht Stunden hat die Produktion der Barren gedauert, jetzt wären sie leichte Beute für Plünderer. Der Schatz muss schnell in Sicherheit gebracht werden. Und das geht nur online, zur Not auch im Büro. Die Internetseite ist am PC schnell aufgerufen, die Anmeldedaten schnell eingegeben. Dann ein Räuspern – es ist der Chef.
Nicht jeder kann mit OnlineComputerspielen umgehen. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Die Handy-App Pokémon Go etwa. So mancher hat sich bei der virtuellen Monsterjagd schon in Gefahr gebracht – weil er nicht auf den Verkehr achtete oder gar in militärischem Sperrgebiet landete, wie drei Jugendliche in Niedersachsen. Dann ist da der Fahrdienstleiter, der mutmaßlich für das Bahnunglück von Bad Aibling verantwortlich war und der nach Angaben der Staatsanwaltschaft über einen „längeren Zeitraum“ein Onlinespiel gespielt haben soll. Als gesichert gilt, dass David S., der Amokläufer von München, nach Ego-Shooter-Spielen wie Counterstrike süchtig war. Auch Robert S., der 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und dann sich selbst tötete, probte seinen Amoklauf mithilfe gewaltverherrlichender Computerspiele.
Verlässliche Statistiken zu Internetund Computerspielsucht in Deutschland gibt es kaum. 2011
Eine Jägerhütte bauen und 100 000 Jahre sind vorbei
veröffentlichten die Universitäten Lübeck und Greifswald mit Unterstützung des Bundesgesundheitsministeriums die „Pinta-Studie“. Danach sind 560 000 Menschen in Deutschland internetsüchtig, weitere 2,5 Millionen gelten als auffällig. Je jünger die Internetnutzer sind, desto höher ist der Anteil von Problemfällen. Bei den 14- bis 24-Jährigen lag er bei knapp 14 Prozent. Von den gefährdeten jugendlichen Männern spielten 33 Prozent Online-Computerspiele, bei den Mädchen waren es sieben Prozent.
Doch zurück zum Gold. Es ist eines der Güter, das die Spieler im Browsergame „Forge of Empires“produzieren oder erhandeln müssen, um weiterzukommen. Dabei erhält ein Spieler die Kontrolle über eine Stadt und führt sie durch die verschiedenen Zeitalter. Bei diesem „Massive Multiplayer Onlinegame“(MMO) treten zahlreiche Spieler gegeneinander an. Es läuft 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche – und sei es im Hintergrund. Zehntausende von Spielern tummeln sich auf den einzelnen Servern. Weltweit haben sich 150 Millionen Spieler nach Angaben der Hamburger Betreiberfirma Innogames registriert.
Nach der Anmeldung eröffnet sich dem Spieler eine große Freifläche mit einladender Grafik. Eine Höhle ist zu sehen, ein paar Bäume und eine Hütte. Oben steht zur Orientierung auf einem Balken „Steinzeit“. In den kommenden Monaten werden sich Balken und Höhle verändern, Burgen und Festungen erscheinen. Doch erst einmal muss die Bronzezeit erreicht werden. Und das geht fix. Die ersten Missionen sind schnell erledigt. Hier eine Wohnhütte, da eine Jägerhütte bauen, schon sind 100 000 Jahre Geschichte übersprungen. Bis zum nächsten Zeitalter dauert es dann schon mehrere Tage, das Tempo nimmt immer weiter ab.
Dass Spieler immer länger auf den nächsten Erfolg warten müssen, ist typisch für Browsergames. Mediziner Dr. Klaus Wölfling, Experte für Internet- und Computerspielsucht an der Uniklinik Mainz, sieht darin eine Gefahr. In seinen Therapiegruppen sitzen Patienten, bei denen Computerspiele wie Drogen wirken. Bis zu 400 kommen im Jahr, die meisten aus dem rheinhessischen Raum. „Ich habe gerade erst versucht, einen Patienten aus Ulm zu vermitteln – es gibt in Deutschland einfach zu wenige Angebote.“
Also: Wenn das PC-Spiel eine Droge ist, wie funktioniert diese dann? „Die Spieler brauchen immer mehr von demselben, um den nächsten Kick zu erhalten“, sagt Wölfling. Es finde eine Veränderung des Belohnungssystems statt – quasi eine Umprogrammierung im Kopf. „Das Computerspiel wird zur Lebensrealität“, sagt Wölfling.
Für seinen Kollegen Toni Steinbüchel von der Bochumer LWLUniklinik gibt es noch einen anderen, wesentlichen Faktor, der süchtig macht. Wer sich bei „Forge of Empires“mit anderen Spielern zusammentut, erhält Vorteile. Er kann besser handeln, bei Gildenkämpfen mitmachen und bekommt Boni auf seine Produktion. Bei vielen Gilden ist regelmäßige Aktivität Voraussetzung. Die Spieler schaffen ihre eigenen Regeln, kommunizieren auch abseits des Spiels über Software wie Teamspeak, Skype oder Mumble. „Es gibt den Druck: Mach mit oder du fliegst hier raus“, sagt Steinbüchel. Weil die Spiele Monate, wenn nicht Jahre dauern, entstünden soziale Bindungen. „Das trifft vor allem Menschen, die sozial isoliert sind. Das hat einen massiven Einfluss auf den Selbstwert.“
Hendrik Klindworth hat die Firma Innogames 2007 mitgegründet, die hinter Titeln wie „Forge of Empires“und „Die Stämme“steht. Natürlich hätten seine Spiele eine soziale Komponente, sagt er. Er berichtet von Nutzern, die sich auf diese Weise kennengelernt und später geheiratet hätten. „Einen gewissen Charakter von sozialem Netzwerk hat so ein Spiel ja auch“, sagt Klindworth.
Wann aus Spaß Sucht wird, bestimmt Mediziner Wölfling an fünf Anzeichen: Entzugssymptome, Kontrollverlust, Lügen, um zu spielen, Konsequenzen für das Privatoder Berufsleben sowie erfolglose Ausstiegsversuche. Eines dieser Symptome allein reicht noch nicht aus. Süchtige entziehen sich demnach immer mehr der Realität, ziehen ihre Erfolgserlebnisse nur noch aus den Spielen. Exzessives Zocken führt zu Konzentrationsschwierigkeiten. „Kündigung oder Exmatrikulation können die Folgen sein, Beziehungen können zerbrechen“, sagt Wölfling. „Man kann sich nicht mehr davon lösen.“
Spieleentwickler Hendrik Klindworth kennt diese Probleme – und sie gefallen ihm ebenso wenig wie den Medizinern. „Auch in unserem wirtschaftlichen Interesse ist es nicht gut, wenn ein Spieler irgendwann zu viel Zeit mit unseren Spielen verbringt und dann nichts anderes mehr nebenbei macht“, sagt er. Wer seinen Job verliere, könne sich die Zusatzpakete der zunächst kostenlosen Spiele nicht leisten, mit deren Hilfe Spieler ihren Fortschritt beschleunigen können. Innogames habe daher Bremsen in den Spielen eingebaut. Bei „Forge of Empires“etwa bringe es irgendwann nichts mehr, wenn man immer online ist.
Das ist bei vielen Konkurrenten anders, etwa bei den Spielen Ogame oder Ikariam der Karlsruher Firma Gameforge. Gerade nachts greifen sich die Spieler dort gerne an. Und sie können deutlich mehr verlieren. Bei Ogame, einem Weltall-Spiel, sind unter Umständen über Nacht ganze Flotten und Planeten weg – und der eigene Punktestand im Keller. Wer das verhindern will, muss regelmäßig online sein. Nur: Ist das dann überhaupt noch Spaß? Und ab wann wird es zum Zwang? Leider war Gameforge nicht zu einem Gespräch mit unserer Zeitung bereit.
Hendrik Klindworth, ein Mann mit leichten Ansätzen von Geheimratsecken, sommerlichem Hemd und der branchentypischen Lockerheit, spricht von seiner Firma, als wäre sie sein Kind. „Wir sind immer noch Nerds“, sagt er. Wenngleich professionalisierte Nerds. 2003 entwickelte Klindworth mit Freunden das Spiel „Die Stämme“– bis heute ein Klassiker der Branche, damals noch ein Spiel für den Freundeskreis. Erst 2007 folgte daraus die Firma Innogames. „Wir haben uns auf allen Gebieten natürlich auch viele erfahrene Mitarbeiter dazu geholt. Das war ein Prozess, der schon in der Hobbyphase begonnen hatte, aber immer noch weitergeht.“
Heute ist Innogames ein mittelständisches Unternehmen. 100 Millionen Euro Umsatz macht es im Jahr, zählt 400 Mitarbeiter und verdient auch an ausländischen Spielern, vor allem in den USA. „Das perfekte Spiel ist nach unserer Auffassung eines, das den Spielern auch langfristig Spaß bietet. In dem sie mehrere Jahre Spaß haben und mit anderen Spielern zusammen spielen können. Das den Spielern eine hohe Qualität liefert“, sagt Klindworth.
Doch das Geschäftsmodell ist nicht unumstritten. Wer es verstehen möchte, dem reicht ein Blick auf
Die höchste Punktzahl haben die, die bares Geld zahlen
die Höchstpunktzahlen der einzelnen Server. Da stehen fast immer Spieler ganz oben, die sich gegen bares Geld zusätzliche Gebäude, einen Bauplatz oder Weltwunder erkauft haben. Klindworth sagt: „Es muss nicht jeder bezahlen. Es reicht für unser Geschäftsmodell aus, wenn einige Spieler bezahlen.“Das seien derzeit 20 Prozent der sehr aktiven Nutzer. Er glaubt: „Wenn jemand lange Zeit als Hobby ein Spiel spielt, dann sind die Chancen ganz gut, dass er irgendwann auch zum Bezahlspieler wird.“
Mediziner Wölfling sieht allerdings bei seinen Patienten, welche dramatischen Folgen das haben kann: „Es gibt einen kompetitiven Druck. Die, die einmal bezahlt haben, bezahlen immer mehr“, sagt er. Das sei wie im Casino. „Beim Glücksspiel jagt man auch den Verlusten hinterher.“Zumindest, wenn man auf Platz eins will.
Die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler hat das Thema Internetsucht für das Jahr 2016 zu ihrem Schwerpunkt erklärt. Im November will sie erste Ergebnisse ihrer Arbeit verkünden. „Wir müssen klar benennen, was an den Spielen suchtgefährdend ist, aufklären, Hilfe leisten, und dort, wo es möglich ist, wird auch der Gesetzgeber gefragt sein“, sagt sie unserer Zeitung. Wie das aussehen könnte, lässt sie offen. Klaus Wölfling zumindest würde sich freuen, wenn es mehr Fördergelder für Therapien gäbe.