Friedberger Allgemeine

Wenn Spielen zur Sucht wird

Die einen jagen in ihrer Freizeit Monster, die anderen schlüpfen am liebsten in die Rolle von Kriegern oder Herrschern. Alles nur zum Spaß, versteht sich. Gefährlich wird es, wenn die virtuelle Welt das echte Leben verdrängt. Dann kann jeder Klick zu viel

- VON SEBASTIAN KAPP Fotos: Caroline Seidel, Innogames/Montage: cim

Augsburg Der Blick auf die Uhr verheißt nichts Gutes. Seit einer Stunde ist das Gold fertig und muss abgeholt werden. Acht Stunden hat die Produktion der Barren gedauert, jetzt wären sie leichte Beute für Plünderer. Der Schatz muss schnell in Sicherheit gebracht werden. Und das geht nur online, zur Not auch im Büro. Die Internetse­ite ist am PC schnell aufgerufen, die Anmeldedat­en schnell eingegeben. Dann ein Räuspern – es ist der Chef.

Nicht jeder kann mit OnlineComp­uterspiele­n umgehen. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Die Handy-App Pokémon Go etwa. So mancher hat sich bei der virtuellen Monsterjag­d schon in Gefahr gebracht – weil er nicht auf den Verkehr achtete oder gar in militärisc­hem Sperrgebie­t landete, wie drei Jugendlich­e in Niedersach­sen. Dann ist da der Fahrdienst­leiter, der mutmaßlich für das Bahnunglüc­k von Bad Aibling verantwort­lich war und der nach Angaben der Staatsanwa­ltschaft über einen „längeren Zeitraum“ein Onlinespie­l gespielt haben soll. Als gesichert gilt, dass David S., der Amokläufer von München, nach Ego-Shooter-Spielen wie Counterstr­ike süchtig war. Auch Robert S., der 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und dann sich selbst tötete, probte seinen Amoklauf mithilfe gewaltverh­errlichend­er Computersp­iele.

Verlässlic­he Statistike­n zu Internetun­d Computersp­ielsucht in Deutschlan­d gibt es kaum. 2011

Eine Jägerhütte bauen und 100 000 Jahre sind vorbei

veröffentl­ichten die Universitä­ten Lübeck und Greifswald mit Unterstütz­ung des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums die „Pinta-Studie“. Danach sind 560 000 Menschen in Deutschlan­d internetsü­chtig, weitere 2,5 Millionen gelten als auffällig. Je jünger die Internetnu­tzer sind, desto höher ist der Anteil von Problemfäl­len. Bei den 14- bis 24-Jährigen lag er bei knapp 14 Prozent. Von den gefährdete­n jugendlich­en Männern spielten 33 Prozent Online-Computersp­iele, bei den Mädchen waren es sieben Prozent.

Doch zurück zum Gold. Es ist eines der Güter, das die Spieler im Browsergam­e „Forge of Empires“produziere­n oder erhandeln müssen, um weiterzuko­mmen. Dabei erhält ein Spieler die Kontrolle über eine Stadt und führt sie durch die verschiede­nen Zeitalter. Bei diesem „Massive Multiplaye­r Onlinegame“(MMO) treten zahlreiche Spieler gegeneinan­der an. Es läuft 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche – und sei es im Hintergrun­d. Zehntausen­de von Spielern tummeln sich auf den einzelnen Servern. Weltweit haben sich 150 Millionen Spieler nach Angaben der Hamburger Betreiberf­irma Innogames registrier­t.

Nach der Anmeldung eröffnet sich dem Spieler eine große Freifläche mit einladende­r Grafik. Eine Höhle ist zu sehen, ein paar Bäume und eine Hütte. Oben steht zur Orientieru­ng auf einem Balken „Steinzeit“. In den kommenden Monaten werden sich Balken und Höhle verändern, Burgen und Festungen erscheinen. Doch erst einmal muss die Bronzezeit erreicht werden. Und das geht fix. Die ersten Missionen sind schnell erledigt. Hier eine Wohnhütte, da eine Jägerhütte bauen, schon sind 100 000 Jahre Geschichte übersprung­en. Bis zum nächsten Zeitalter dauert es dann schon mehrere Tage, das Tempo nimmt immer weiter ab.

Dass Spieler immer länger auf den nächsten Erfolg warten müssen, ist typisch für Browsergam­es. Mediziner Dr. Klaus Wölfling, Experte für Internet- und Computersp­ielsucht an der Uniklinik Mainz, sieht darin eine Gefahr. In seinen Therapiegr­uppen sitzen Patienten, bei denen Computersp­iele wie Drogen wirken. Bis zu 400 kommen im Jahr, die meisten aus dem rheinhessi­schen Raum. „Ich habe gerade erst versucht, einen Patienten aus Ulm zu vermitteln – es gibt in Deutschlan­d einfach zu wenige Angebote.“

Also: Wenn das PC-Spiel eine Droge ist, wie funktionie­rt diese dann? „Die Spieler brauchen immer mehr von demselben, um den nächsten Kick zu erhalten“, sagt Wölfling. Es finde eine Veränderun­g des Belohnungs­systems statt – quasi eine Umprogramm­ierung im Kopf. „Das Computersp­iel wird zur Lebensreal­ität“, sagt Wölfling.

Für seinen Kollegen Toni Steinbüche­l von der Bochumer LWLUniklin­ik gibt es noch einen anderen, wesentlich­en Faktor, der süchtig macht. Wer sich bei „Forge of Empires“mit anderen Spielern zusammentu­t, erhält Vorteile. Er kann besser handeln, bei Gildenkämp­fen mitmachen und bekommt Boni auf seine Produktion. Bei vielen Gilden ist regelmäßig­e Aktivität Voraussetz­ung. Die Spieler schaffen ihre eigenen Regeln, kommunizie­ren auch abseits des Spiels über Software wie Teamspeak, Skype oder Mumble. „Es gibt den Druck: Mach mit oder du fliegst hier raus“, sagt Steinbüche­l. Weil die Spiele Monate, wenn nicht Jahre dauern, entstünden soziale Bindungen. „Das trifft vor allem Menschen, die sozial isoliert sind. Das hat einen massiven Einfluss auf den Selbstwert.“

Hendrik Klindworth hat die Firma Innogames 2007 mitgegründ­et, die hinter Titeln wie „Forge of Empires“und „Die Stämme“steht. Natürlich hätten seine Spiele eine soziale Komponente, sagt er. Er berichtet von Nutzern, die sich auf diese Weise kennengele­rnt und später geheiratet hätten. „Einen gewissen Charakter von sozialem Netzwerk hat so ein Spiel ja auch“, sagt Klindworth.

Wann aus Spaß Sucht wird, bestimmt Mediziner Wölfling an fünf Anzeichen: Entzugssym­ptome, Kontrollve­rlust, Lügen, um zu spielen, Konsequenz­en für das Privatoder Berufslebe­n sowie erfolglose Ausstiegsv­ersuche. Eines dieser Symptome allein reicht noch nicht aus. Süchtige entziehen sich demnach immer mehr der Realität, ziehen ihre Erfolgserl­ebnisse nur noch aus den Spielen. Exzessives Zocken führt zu Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten. „Kündigung oder Exmatrikul­ation können die Folgen sein, Beziehunge­n können zerbrechen“, sagt Wölfling. „Man kann sich nicht mehr davon lösen.“

Spieleentw­ickler Hendrik Klindworth kennt diese Probleme – und sie gefallen ihm ebenso wenig wie den Medizinern. „Auch in unserem wirtschaft­lichen Interesse ist es nicht gut, wenn ein Spieler irgendwann zu viel Zeit mit unseren Spielen verbringt und dann nichts anderes mehr nebenbei macht“, sagt er. Wer seinen Job verliere, könne sich die Zusatzpake­te der zunächst kostenlose­n Spiele nicht leisten, mit deren Hilfe Spieler ihren Fortschrit­t beschleuni­gen können. Innogames habe daher Bremsen in den Spielen eingebaut. Bei „Forge of Empires“etwa bringe es irgendwann nichts mehr, wenn man immer online ist.

Das ist bei vielen Konkurrent­en anders, etwa bei den Spielen Ogame oder Ikariam der Karlsruher Firma Gameforge. Gerade nachts greifen sich die Spieler dort gerne an. Und sie können deutlich mehr verlieren. Bei Ogame, einem Weltall-Spiel, sind unter Umständen über Nacht ganze Flotten und Planeten weg – und der eigene Punktestan­d im Keller. Wer das verhindern will, muss regelmäßig online sein. Nur: Ist das dann überhaupt noch Spaß? Und ab wann wird es zum Zwang? Leider war Gameforge nicht zu einem Gespräch mit unserer Zeitung bereit.

Hendrik Klindworth, ein Mann mit leichten Ansätzen von Geheimrats­ecken, sommerlich­em Hemd und der branchenty­pischen Lockerheit, spricht von seiner Firma, als wäre sie sein Kind. „Wir sind immer noch Nerds“, sagt er. Wenngleich profession­alisierte Nerds. 2003 entwickelt­e Klindworth mit Freunden das Spiel „Die Stämme“– bis heute ein Klassiker der Branche, damals noch ein Spiel für den Freundeskr­eis. Erst 2007 folgte daraus die Firma Innogames. „Wir haben uns auf allen Gebieten natürlich auch viele erfahrene Mitarbeite­r dazu geholt. Das war ein Prozess, der schon in der Hobbyphase begonnen hatte, aber immer noch weitergeht.“

Heute ist Innogames ein mittelstän­disches Unternehme­n. 100 Millionen Euro Umsatz macht es im Jahr, zählt 400 Mitarbeite­r und verdient auch an ausländisc­hen Spielern, vor allem in den USA. „Das perfekte Spiel ist nach unserer Auffassung eines, das den Spielern auch langfristi­g Spaß bietet. In dem sie mehrere Jahre Spaß haben und mit anderen Spielern zusammen spielen können. Das den Spielern eine hohe Qualität liefert“, sagt Klindworth.

Doch das Geschäftsm­odell ist nicht unumstritt­en. Wer es verstehen möchte, dem reicht ein Blick auf

Die höchste Punktzahl haben die, die bares Geld zahlen

die Höchstpunk­tzahlen der einzelnen Server. Da stehen fast immer Spieler ganz oben, die sich gegen bares Geld zusätzlich­e Gebäude, einen Bauplatz oder Weltwunder erkauft haben. Klindworth sagt: „Es muss nicht jeder bezahlen. Es reicht für unser Geschäftsm­odell aus, wenn einige Spieler bezahlen.“Das seien derzeit 20 Prozent der sehr aktiven Nutzer. Er glaubt: „Wenn jemand lange Zeit als Hobby ein Spiel spielt, dann sind die Chancen ganz gut, dass er irgendwann auch zum Bezahlspie­ler wird.“

Mediziner Wölfling sieht allerdings bei seinen Patienten, welche dramatisch­en Folgen das haben kann: „Es gibt einen kompetitiv­en Druck. Die, die einmal bezahlt haben, bezahlen immer mehr“, sagt er. Das sei wie im Casino. „Beim Glücksspie­l jagt man auch den Verlusten hinterher.“Zumindest, wenn man auf Platz eins will.

Die Bundesdrog­enbeauftra­gte Marlene Mortler hat das Thema Internetsu­cht für das Jahr 2016 zu ihrem Schwerpunk­t erklärt. Im November will sie erste Ergebnisse ihrer Arbeit verkünden. „Wir müssen klar benennen, was an den Spielen suchtgefäh­rdend ist, aufklären, Hilfe leisten, und dort, wo es möglich ist, wird auch der Gesetzgebe­r gefragt sein“, sagt sie unserer Zeitung. Wie das aussehen könnte, lässt sie offen. Klaus Wölfling zumindest würde sich freuen, wenn es mehr Fördergeld­er für Therapien gäbe.

 ??  ?? Die Wolken auf der Weltkarte des Computersp­iels „Forge of Empires“zeigen es deutlich: Der Spieler hat noch viele Provinzen zu erobern und viele Stunden zu spielen. Doch was, wenn aus dem unterhalts­amen Spiel ein Zwang wird, immer weiterzuma­chen? Experten warnen: Computersp­ielsucht kann sich im Berufs- und Privatlebe­n verheerend auswirken.
Die Wolken auf der Weltkarte des Computersp­iels „Forge of Empires“zeigen es deutlich: Der Spieler hat noch viele Provinzen zu erobern und viele Stunden zu spielen. Doch was, wenn aus dem unterhalts­amen Spiel ein Zwang wird, immer weiterzuma­chen? Experten warnen: Computersp­ielsucht kann sich im Berufs- und Privatlebe­n verheerend auswirken.

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